Ein Hauch von Silicon Valley liegt über dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.
In einem fensterlosen Raum mit praktischem Teppichboden, dort, wo Journalisten sonst maximal vor einen Fernseher gesetzt werden, haben die Pressebeauftragten eine amtliche Produktpräsentation vorbereitet. Im abgedunkelten Saal erleuchten Scheinwerfer weiße Plakatwände, auf denen gleich zehnmal "Corona-Warn-App" zu lesen ist. Denn ebenjene Software erblickt an diesem Dienstag das Licht der Welt. Vier Bundesminister sowie die Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, sind gekommen, um diesen Umstand zu verkünden. "Wie im Andachtsraum", raunt Gesundheitsminister Jens Spahn dem Kanzleramtsminister Helge Braun (beide CDU) zu, als sie sich setzen.
Man hat sich für diesen Tag eine Choreografie überlegt, schließlich ist die Botschaft wichtig: Möglichst viele Menschen sollen die Software auf ihr Handy laden und so dazu beitragen, die Übertragung des Coronavirus schneller zu erkennen als bisher. Es geht um Zusammenhalt, Sicherheit, um Zuspruch von ganz oben. Deshalb ist auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) gekommen, der als Hüter von "Datenschutz und Informationssicherheit" vorgestellt wird, und Christine Lambrecht (SPD) als "Verbraucherschutzministerin", wie Dorothee Bär (CSU) sagt. Denn obwohl Bär qua Amt die Digitalbeauftragte der Regierung ist, soll sie jetzt gar nicht über die App sprechen - sondern lediglich den Ministern das Wort erteilen.
Ihr Chef, Helge Braun, faltet also die Hände und sagt, es sei "ein kleiner Schritt für jeden von uns, aber ein großer Schritt für die Pandemiebekämpfung". Wie man hier "unschwer sehen kann", handele es sich um ein Projekt der gesamten Regierung - und es habe eine "breite Vorgeschichte". Es ist ein schöner Ausdruck, den Braun hier benutzt, um das Gerangel zu beschreiben, das hinter der Entwicklung dieser App steckt.
Ursprünglich hatte Spahn einmal geplant, die Standortdaten von Handys potenzieller Corona-Kontaktpersonen bei den Netzbetreibern abzufragen. Das stieß auf massiven Widerstand. Dann schwenkte man auf eine freiwillige App um, bei der die Daten ihrer Nutzer jedoch zentral gespeichert worden wären. Auch davon mussten Braun und er Ende April Abstand nehmen. Die neue Software soll nun lediglich feststellen, welche Menschen fünfzehn Minuten Kontakt miteinander hatten, aber nicht, wo dieser stattfand und wie die Personen heißen. Diese fünfzehn Minuten, sagen die Virologen, sei ein sinnvoller Durchschnittswert, um engeren Kontakt zu ermitteln.
Während Datenschützer die dezentrale Version, die es nun geworden ist, als besonders sicher preisen, gibt es einen anderen, der weniger glücklich ist. Er heißt Hans-Christian Boos und ist einer der Digitalberater der Bundesregierung. In der aufgeregtesten Phase des Kampfs gegen die Pandemie im Frühjahr erklärte Boos, er habe das Konstrukt für die Corona-App gefunden und jetzt werde es schnell gehen. An diesem Dienstag sitzt Boos aber nicht neben den Ministern im Rampenlicht, sondern im Halbdunkeln vor seinem Computer. Er sei Opfer einer "Datenschutzkampagne", sagt er. "Ich ärgere mich dafür, dass einem Engagement ins Gesicht explodiert. Da setzt man sich lieber in die Ecke und verdient Geld, kein Problem."
Boos und sein Konsortium Pepp-PT waren zunächst Favorit für ein System gewesen, auf dem die Apps europäischer Staaten aufsetzen sollten. Er entwarf eine Software-Architektur, in der die Daten auf einem zentralen Server landen. Das hilft Forschern bei der Analyse der Pandemie, aber klingt im datenschutzfreundlichen Deutschland für manche nach zentralisierter Überwachung. Es gab Einwände aus der Zivilgesellschaft, einige der Forscher, die Boos zusammengebracht hatte, warfen ihm vor, seine Pläne seien zu nebulös. Die Regierung schwenkte um, beauftragte statt Boos SAP und die Telekom, und setzte statt seiner paneuropäischen Versprechen auf Apple und Google.
"Jetzt werden SAP und Telekom kritisiert, dass sie angeblich so langsam waren. Wir wurden kritisiert, dass wir schlecht kommuniziert haben, sollten aber schnell sein", sagt Boos. Er sieht sich dennoch als einen der Väter der Corona-App, die sich nun Millionen Menschen auf ihre Handys laden. "Wir haben bisher keinen Cent gesehen für unsere Arbeit. Was jetzt getan wird, basiert auf dieser Arbeit."
Tatsächlich dankt Kanzleramtschef Braun gleich in seinen einleitenden Worten "den Erstinitiatoren", die für Deutschland und Europa eine App mit Bluetooth-Funktion ersonnen hatten. "Das war eine grundlegend neue Idee, die uns von einem sehr großen Problem befreit hat." Doch den Platz am Tisch hat jetzt Telekom-Chef Tim Höttges, der seine App einen "Rockstar" nennt: "Unser Dank geht an die beiden großen Konzerne im Valley!" Dann setzt er zu einem langen, schwungvollen Vortrag über seine "ultrapräzise" Technologie an, über sein "Projekt, was großartig Spaß gemacht" habe, an dessen Ende er sein Handy neben sein Gesicht hält, lächelt und sagt: "Bitte installieren Sie die App - ich habe sie bereits installiert."
Tim Höttges' gute Laune an diesem Vormittag hat viele Gründe. Nicht nur, dass sich seine Variante durchgesetzt hat. Er kann die Gelegenheit auch nutzen, um sich bei Telekom-Nutzern für die jüngste Netzstörung zu entschuldigen und um gleich neue Kundschaft zu gewinnen: "Für diejenigen, die noch kein Handy haben, bieten wir in unseren Shops Handys an, auch für die ältere Bevölkerung", sagt er. Hier werde man ihnen nicht nur die allerneusten Smartphone-Modelle verkaufen, auf denen die Corona-App auch läuft, sondern ihnen die Software netterweise im Laden installieren.
Denn seit die App in der Nacht zum Dienstag freigeschaltet wurde, haben viele Bürger schon erfolglos versucht, sich die neue Wundersoftware zu installieren - auf älteren Smartphone-Modellen funktioniert sie schlicht nicht. Es gebe "noch die Hoffnung", sagt Braun, dass die Handyhersteller die App auch für ältere Geräte zugänglich machten. Man sei im Gespräch. Doch letztlich obliegt es den Unternehmen, an welche Bedingungen sie die Funktion der Corona-App knüpfen.
Doch um solche Bedenken soll es nun eigentlich nicht gehen, außer, wenn Minister sie ausräumen. Justizministerin Lambrecht etwa versichert, dass kein Gastwirt ein Interesse habe, Menschen ohne App den Zutritt zu seinem Laden zu verwehren. Und auch für Arbeitgeber gebe es hohe rechtliche Hürden, die sie daran hinderten, ihre Belegschaft zur App zu zwingen.
Innenminister Seehofer liest ab, man habe "die App selbst und die dazugehörige Infrastruktur ständig im Hinblick auf Sicherheit geprüft", bevor er auf seinem Stuhl zurückrutscht und mit herabgezogenen Mundwinkeln und gerunzelter Stirn lauscht, was die Kollegen über "Algorithmus" und "Bluetooth" erzählen. Trotz der von Braun erwähnten "Vorgeschichte" sei der Zeitpunkt der App-Vorstellung gerade richtig, betont der "federführende" Minister Spahn. Schließlich würden die Menschen durch die gelockerten Schutzmaßnahmen nun wieder enger zusammenkommen. Der perfekte Zeitpunkt also, um die neue App einzuschalten. Bald solle sie zudem in anderen europäischen Ländern funktionieren. Schließlich sind fast alle Länder in der Europäischen Union sowie Liechtenstein und Norwegen dabei, Corona-Apps zu entwickeln oder haben solche bereits veröffentlicht. Kurz nach der deutschen Präsentation kündigte am Dienstag auch die EU-Kommission eine technische Lösung an, damit der Informationsaustausch funktioniert, wenn sich ein Nutzer innerhalb der EU in ein anderes Land bewegt. Darauf hätten sich die Mitgliedstaaten geeinigt. In einem ersten Schritt sollen jene Apps verbunden werden, die wie die deutsche Version Daten dezentral speichern. Langfristig arbeite man aber auch daran, zentrale Systeme, wie sie etwa in Frankreich oder Ungarn verwendet werden, anzuschließen. Das wäre eine Lösung, wie sie sich Hans-Christian Boos ursprünglich vorgestellt hatte. Bloß, dass ihn niemand mehr fragt.