Elektroautos und Fachkräftemangel haben eines gemeinsam: Seit Langem wird über beide Dinge geredet - doch erst jetzt kommt in der deutschen Industrie an, was sie jeweils bedeuten. Dabei war zumindest beim Arbeitskräftemangel die Gegenwart schon lange vorgegeben. Es ist es mathematisch nicht so schwer auszurechnen, wann nach der Geburt durchschnittlich der Schulabschluss ansteht und wann die Rente. Trotzdem zeigen sich viele jetzt überrascht, wie schwer es derzeit ist, Personal zu finden. So viele Firmen wie noch nie seit Beginn der Erhebung beklagen in einer Ifo-Umfrage, dass ihnen Mitarbeiter fehlen. Doch das muss nicht so bleiben - das sagt Andrea Nahles, die Chefin der Bundesagentur der Arbeit und ehemalige SPD-Vorsitzende. Bei den Munich Economic Debates, einer Veranstaltungsreihe des Ifo-Instituts und der Süddeutschen Zeitung, machte Nahles drei Vorschläge, die gegen den Arbeitskräftemangel helfen.
Das größte Potenzial ist laut Nahles auch am schnellsten zu heben: bei Frauen. Denn die arbeiten in Deutschland im europäischen Vergleich sehr häufig Teilzeit. Etwa jede zehnte Frau mit Teilzeitjob würde gerne länger arbeiten, zitierte Nahles Umfrageergebnisse des IAB, des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit. Im Durchschnitt gehe es um zwölf Wochenstunden - also recht viel. Als Hindernis, mehr zu arbeiten, nennen Frauen in Umfragen häufig Familie und Haushalt. Die Frage der sogenannten Care-Arbeit müsse mitdiskutiert werden, sagte Nahles daher. Doch auch die Arbeitgeber könnten etwas tun: Oft würden flexiblere Arbeitszeiten helfen. Nahles berichtete von einer Pflegerin in Sachsen-Anhalt, die einen Job nicht habe antreten können, weil die Schicht um sechs Uhr beginne - zu früh, um ihr Kind noch in einer Kita abgeben zu können. Die Alleinerziehende sei daher nun zu einer Zeitarbeitsfirma gewechselt, dort könne sie später anfangen. Nahles appellierte daher an die Unternehmen, auf die Frauen in der Belegschaft zuzugehen und sie zu fragen, ob und wie flexiblere Arbeitszeiten helfen würden. Da die Frauen für ihre Jobs bereits ausgebildet sind, würde die Mehrarbeit direkt bei den Unternehmen ankommen.
Zweitens müsse die Berufsorientierung junger Menschen besser gefördert werden, sagte Nahles. Die Bundesagentur, Eltern und Unternehmen seien nach der Corona-Pandemie nun besonders gefragt. Die Seuche, die Kontaktbeschränkungen, die Schulschließungen sei den Jungen nicht nur auf die Psyche geschlagen, sie habe auch Karrierepläne enorm gestört. "Wir haben eine riesige Delle bei Praktika gesehen", sagte Nahles: Viel weniger Schülerinnen und Schüler hätten in der Seuchenzeit mal eine Firma von innen gesehen. Dabei seien diese persönlichen Kontakte und Erfahrung wichtig für den Weg in den Beruf. Sie rief dazu auf, 2023 zum Praktikumsjahr zu machen, um die durch die Seuche gerissenen Kontakte von Schülerinnen und Schülern zu Firmen wieder zu knüpfen. Die Bundesagentur biete außerdem virtuelle Elternabende an, um bei der Berufs- und Studienwahl zu helfen. "Eltern sind die wichtigsten Berufsberater", sagte Nahles.
Als drittes sprach Nahles über die Älteren. Auch hier könnten sich viele vorstellen, länger zu arbeiten, wenn das gesundheitlich passe, sagte Nahles. Die meisten würden dann im gleichen Betrieb bleiben und gerne noch ein bisschen dranhängen - wobei es eben oft "ein bisschen" sei und nicht eine 40-oder-mehr-Stundenwoche. Doch angesichts des fehlenden Personals helfe schon ein Tag mehr manchen Unternehmen. Wie bei Frauen sei auch bei Älteren die Flexibilität entscheidend: Wenn die Arbeitszeit sich den Lebensumständen anpasse, sei viel gewonnen, so Nahles.
Zuwanderung ist noch zusätzlich notwendig
Die Bundesagentur für Arbeit, eine der größten Behörden Deutschlands, ist selbst vom demografischen Wandel betroffen, berichtete Nahles: Von den 113 000 Mitarbeitern der Bundesagentur würden in den kommenden zehn Jahren rund 35 000 aus Altersgründen ausscheiden.
Die drei Vorschläge von Nahles - höhere Arbeitszeit bei Frauen, bessere Ausbildungen, mehr Jobs für Rentner - zielen darauf ab, aus dem deutschen Arbeitsmarkt mehr herauszuholen. Desweiteren ist der Bundesagentur zufolge auch Migration notwendig, damit genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Rechnerisch seien dafür 400 000 Zuwanderer pro Jahr nötig, und zwar, nachdem alle Auswanderer schon abgezogen sind. Deutschland sei kein unbeliebtes Einwanderungsland, betonte Nahles, aber eine Sache sei da doch: "Ich bin Germanistin, und ich liebe die deutsche Sprache, aber sie ist ein Wettbewerbsnachteil". Zudem dürfe die Migrationsdebatte nicht verkürzt geführt werden, mahnte sie: "Es kommen keine Fachkräfte, es kommen Menschen."