Luftfahrt:Experten kritisieren mangelhafte Sicherheitskultur bei Boeing

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Flugzeuge des Typs Boeing "737 Max" stehen auf dem Werksgelände in Renton, Washington. (Foto: Lindsey Wasson/REUTERS)

Bloße Ausrichtung auf Gewinnmaximierung, großer Druck auf Mitarbeiter: Ein Bericht des US-Kongresses stellt dem Flugzeughersteller ein verheerendes Zeugnis aus und verlangt weitreichende Änderungen.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Es ist gerade eine Woche her, dass Boeing wieder einmal das Management umgebaut hat. Ganz an der Spitze hat sich nichts verändert, David Calhoun leitet weiterhin den Gesamtkonzern und Stan Deal ist für die Zivilflugzeuge verantwortlich. Neu sind hingegen ein Programmchef und eine Oberaufseherin für Qualität, die die Montage genauer überwachen soll. Sie sollen verhindern, dass es wieder Produktionsfehler gibt wie jener, der dazu führte, dass sich am 5. Januar bei einer Boeing 737 Max von Alaska Airlines im Flug ein Rumpfteil löste.

Aber Boeing wäre nicht Boeing, wenn es nicht nach ein paar Tagen das nächste Drama geben würde, und dieses Mal geht es um mehr als ein paar Personalien für ein besseres Image. Eine vom US-amerikanischen Kongress beauftragte Expertengruppe hat nun ihren Bericht zur Sicherheitskultur bei Boeing vorgelegt, und sie kommt zu teils vernichtenden Schlussfolgerungen. Auch fast fünf Jahre nach dem zweiten Absturz einer 737 Max hat der Konzern dem Bericht zufolge immer noch keine Konsequenzen gezogen, die weit genug gehen, um die Sicherheit und die Unternehmenskultur wesentlich zu verbessern. Ein Beispiel: Immer noch würden die internen Verfahren nicht verhindern, dass Mitarbeiter um ihre Jobs oder Karrieren fürchten müssen, wenn sie auf Missstände hinweisen.

Im Oktober 2018 und März 2019 waren zwei Boeing 737 Max der Lion Air (Indonesien) und Ethiopian Airlines abgestürzt, insgesamt 346 Menschen kamen ums Leben. Wie sich herausstellte, hatte Boeing ein neues Flugsteuerungssystem verbaut, ohne dies kenntlich zu machen. Das System - Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) genannt - griff in bestimmten Fluglagen von den Piloten unbemerkt ein und drückte die Nase des Flugzeuges nach unten. Später wurde das System entschärft. Die Max-Reihe durfte zwischen März 2019 und Dezember 2020 weltweit nicht fliegen. Im Fokus steht aber auch eine Unternehmenskultur, die einseitig auf Gewinnmaximierung aus war und zulasten der Sicherheit ging, in der Mitarbeiter unter großem Druck standen, Zeitpläne einzuhalten, auch wenn die Flugzeuge am Ende nicht ausgereift waren.

Die Expertengruppe ist sehr heterogen zusammengesetzt. Sie besteht aus Mitarbeitern der Aufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA), Gewerkschaften, Wissenschaftlern und Vertretern von Fluggesellschaften. Sie wühlten sich durch mehr als 4000 Seiten interner Boeing-Dokumente und führten rund 250 Interviews. Einer der Hauptkritikpunkte: Das Boeing-Topmanagement verspricht zwar Veränderung, aber auf der Arbeitsebene greifen immer noch die alten, falschen und letztlich gefährlichen Mechanismen. Immer noch gibt es den enormen Druck, Flugzeuge termingerecht zu liefern, und wenn Mängel in der Produktion dies zu verhindern drohen, dann werden diese irgendwie in Windeseile beseitigt, anstatt die eigentlichen Ursachen zu beheben.

Im Fokus stehen vorrangig die rund 1000 Boeing-Mitarbeiter, an die die FAA wichtige Zulassungsfragen bei neuen Flugzeugvarianten wie der Max delegiert hat. Auch nachdem dieses System infolge der Abstürze verändert worden war, genießen diese Ingenieure bislang nicht den nötigen Schutz, um ohne Angst vor persönlichen Konsequenzen technische Änderungen einzufordern. Der Bericht bemängelt auch, dass die Perspektive der Piloten in der Flugzeugentwicklung nur unzureichend berücksichtigt worden sei und dies Folgen für die Sicherheit haben könne. Bei jedem Flugzeugprojekt müsse aber die Rolle des Chefpiloten deutlich aufgewertet werden, das ist eine von rund 50 Empfehlungen, die das Gremium zusammengetragen hat.

Insgesamt liest sich das Papier wie die Analyse eines Unternehmens, das falsch abgebogen ist, ohne es zu merken, und auch nach Jahren tiefer Krise nicht weiß, wie es auf den richtigen Weg zurückfindet. Vielleicht aber helfen dabei die Anweisungen des Gremiums: Boeing hat nun sechs Monate Zeit, den Bericht auszuwerten, und muss dann der FAA einen Plan vorlegen, wie und wann die einzelnen Probleme beseitigt werden können.

Ob es Calhoun und Deal sein werden, die die Transformation Boeings vorantreiben werden? Bisher sind sie vor allem mit schönen Worten aufgefallen. In der Branche gilt ein Wechsel an der Spitze jedoch längst als überfällig.

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