Jobcenter:Ohne Arbeit, ohne Ansprechpartner

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Auch in den Arbeitsagenturen herrscht Ausnahmezustand. Das stellt viele Betroffene vor große Probleme.

Von Hans von der Hagen, Lea Hampel und Henrike Roßbach

Die Ansage dauert mehr als zwei Minuten: Wer derzeit versucht, einen Jobcentermitarbeiter zu erreichen, muss sich viele Worte anhören, bevor er überhaupt seine Bearbeitungsnummer angeben kann. Da ist von erwartetem hohen Telefonaufkommen die Rede und eingeschränkter Erreichbarkeit. Die zentralen Sätze aber lauten: "Alle persönlichen Gesprächstermine entfallen ohne Rechtsfolgen. Sie müssen diese Termine nicht absagen, sie müssen diesbezüglich auch nicht anrufen. (...) Es entstehen Ihnen keine Nachteile, wenn Sie nicht persönlich vorsprechen." Normalerweise undenkbar in einem System, das aus einzuhaltenden Terminen, abzuliefernden Unterlagen und permanent drohenden Sanktionen besteht. Aber normal ist in Zeiten der Corona-Krise auch in deutschen Jobcentern gar nichts mehr.

Denn auch für Menschen ohne Arbeitsstelle und solche, die Arbeit vermitteln, gelten die Regeln, die derzeit den Gang der Dinge bestimmen: Kontaktvermeidung bei möglicher Aufrechterhaltung des Normalbetriebs und zusätzlichen neuen Aufgaben. Für den Alltag im Jobcenter heißt das seit dem 17. März: Es finden keine persönlichen Termine statt. Weder um Weiterbildungsmaßnahmen zu besprechen noch Jobangebote oder Sanktionen.

Wie sehr das Menschen, die von der Arbeitsagentur abhängig sind, verunsichert, kann Helena Steinhaus täglich beobachten. Die Berlinerin leitet den Verein "Sanktionsfrei", der Widerspruch einlegt gegen Sanktionen und fehlende Beträge ausgleicht. "Die Menschen in Arbeitslosigkeit hängen total in der Luft", sagt Steinhaus. Bisher bekam sie täglich Nachrichten, nun meldet sich seit drei Wochen niemand mehr, dem Sanktionen auferlegt wurden. "Es herrscht Funkstille vonseiten der Jobcenter", sagt sie - und vermutet, dass es dort viel Arbeit mit den neuen Anträgen gibt. Statt Sanktionsnachrichten erhält sie jetzt andere Fragen: Wie läuft es, wenn man schon Arbeitslosengeld I bezieht, aber keine Jobs mehr vorgeschlagen bekommt? Was passiert, wenn ein Pflichtpraktikum wegen Corona abgebrochen wurde und damit nicht beendet werden kann? Schon vor der Corona-Krise sei es oft schwierig gewesen, Mitarbeiter im Jobcenter zu erreichen. Nun habe sich diese Tendenz verstärkt.

Besteht sonst ein großes Gefälle zwischen Menschen, die Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II beziehen, kann man jetzt sagen: Schwierig ist es für beide Gruppen, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Marc Opitz ist Projektmanager aus Leipzig. Er ist Bankkaufmann und staatlich geprüfter Betriebswirt, hat in England einen Bachelor gemacht, danach einen Master. Sein Spezialgebiet ist die Suchmaschinenoptimierung von Internetseiten. Er bezieht, wie 842 000 andere Deutsche, Arbeitslosengeld I. In den vergangenen vier Monaten hat er 31 Bewerbungen geschrieben. Dass es "nur" 31 seien, sagt er, liege daran, dass in den vergangenen Wochen kaum neue Vakanzen veröffentlicht worden seien. Zwei der Stellenangebote, auf die er sich beworben hat, kamen über die Bundesagentur für Arbeit (BA). Schon vor Corona sei es schwierig gewesen, in der Region eine Stelle zu finden. Jetzt empfindet er es als aussichtslos. Der Prozess mit der Arbeitsagentur liege komplett auf Eis. "So sehr ich mich auch bemühe, es geht einfach nicht."

Er hat sich deshalb auch außerhalb umgesehen. "Auch Personalvermittler heben die Hände und sagen, ihre Kunden hätten die Pausentaste gedrückt, sie würden selbst Kurzarbeit einführen", sagt er. Eine Firma habe ihm geschrieben, sie würden frühestens im August wieder einstellen. "Es ist nicht das erste Mal, dass ich Arbeitslosigkeit erlebe", sagt Opitz. "Dass es dermaßen krass wird, damit habe ich nicht gerechnet." Die Hauptsorge des 43-Jährigen: Anfang August droht ihm der Fall in die Grundsicherung.

BA-Chef Detlef Scheele bestätigte diese Woche, dass derzeit nicht viel läuft bei der Vermittlung von Kurzzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Diese Aktivitäten seien "relativ stark zurückgefahren, weil wir wenige Stellenzugänge haben", sagte er in Berlin. Hinzu kommt, dass die BA gerade Tausende Mitarbeiter umschult, damit sie die Flut der Kurzarbeitsanträge stemmen können. Auch in der Grundsicherung wird mit zahlreichen Neuanträgen gerechnet. Das klassische Vermittlungsgeschäft gerät da ins Hintertreffen.

Marc Opitz hatte gehofft, dass der Bezug von Arbeitslosengeld I zumindest für die Dauer der Corona-Krise verlängert wird, während der er keine Bewerbungschancen sieht. Doch das ist nicht der Fall. Scheele sagte, besondere Programme "beim Wechsel der Rechtskreise", also beim Übergang vom Arbeitslosengeld in die Grundsicherung, gebe es nicht. Mit anderen Worten: Während nichts passiert in Sachen Vermittlung, läuft die Zeit für Opitz weiter - und zwar Richtung Hartz IV. Zumindest hat er, wie alle, die in den nächsten Monaten zu Hartz-IV-Beziehern werden, zwei Vorteile: Die Vermögensprüfung fällt weg. Umziehen muss er auch dann nicht, wenn die Miete für seine Wohnung über dem vorgesehenen Betrag liegt.

Aber auch für die rund 3 747 000 Bezieher (Stand März 2020) von Arbeitslosengeld II stellen sich große, wenn auch andere Fragen. Zum Beispiel für Ralph Müller. Er bekam kürzlich Post von den Stadtwerken. Darüber stand: "Letzte Mahnung vor Zählersperrung". Darin: Den Eingang eines Betrags von gut 350 Euro, den er als Nachzahlung leisten sollte, könne man nicht feststellen. Müller, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, kann nach mehreren Krankheiten nicht mehr als Physiotherapeut arbeiten. Er war Ein-Euro-Jobber, später wollte er zum Erzieher umschulen, das wurde nicht bezahlt. Hartz IV bezieht er seit mehr als elf Jahren. Beträge in der Größenordnung der Stadtwerkeforderung sind für ihn eine Unsumme, die er nicht einfach übrig hat. "Vorsorglich" wurde er im Schreiben darauf hingewiesen, dass man berechtigt sei, "bei Nichteinhaltung des Zahlungsziels unsere Lieferung einzustellen". Für Müller hieße das: kein Licht, kein Kühlschrank, keine Waschmaschine, kein Computer.

Sonst war es üblich, knifflige Fragen vor Ort zu klären - diese Option fällt weg

Müller beschloss, beim Jobcenter einen Kredit zu beantragen. Dort regelmäßig aufzutauchen, war vor Corona seine Pflicht. Er fühlte sich zwar oft nicht ernst genommen, gar belogen - aber in diesem speziellen Fall hoffte er auf Hilfe. Als er im Januar eine Mail schrieb, erhielt er nach längerer Zeit den Hinweis, dass die ausstehende Summe nicht hoch genug sei für einen Kredit. Die Stadtwerke schlugen vor, unter anderem die Abschlagszahlung auf 80 Euro zu erhöhen - mehr als doppelt so viel, wie für Hartz-IV-Empfänger im Regelsatz vorgesehen ist. Unmöglich für Müller. In normalen Zeiten wäre er zum Jobcenter gegangen, hätte versucht, mit dem Sachbearbeiter eine Lösung zu finden. Nun steht er allein da. Im schlimmsten Fall ist sein Strom in rund drei Wochen weg. "Genau an meinem Geburtstag", sagt Müller.

Für viele Menschen, die derzeit arbeitslos sind, fallen ohnehin Möglichkeiten weg, mit denen sie bisher ihre Situation verbessert haben: Müller aß oft bei einer Freundin, das ist nun wegen der Kontaktverbote nicht möglich. Billige Produkte sind oft ausverkauft, Tafeln schließen. Hinzu kommt nun die Unsicherheit im Umgang mit den Jobcentern, die nicht gerade kleiner wird durch Aussagen aus der Politik. In den Reihen von Grünen und Linken gibt es Stimmen, die fordern, die Grundsicherung aufzustocken, also höhere Sätze zu zahlen. Auch die Sozialverbände setzen sich dafür ein. "Wir prüfen das, ich will das nicht ausschließen", sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) diese Woche. Und erweiterte seine Aussage: Wenn soziale Härten länger andauerten, "dann werden wir weitere Maßnahmen ergreifen". Aber das hänge von der Dauer der Krise ab.

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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