Marketa Vondrousova triumphiert:Ein Sieg für die Geschichtsbücher

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Ungläubiges Strahlen: Marketa Vondrousova kann ihren Sieg kaum fassen. (Foto: Clive Brunskill/Getty)

Die Tschechin Marketa Vondrousova gewinnt als erste ungesetzte Spielerin das Wimbledon-Turnier. Die Herzen der Zuschauer fliegen aber der Tunesierin Ons Jabeur zu, die wie 2022 das Finale im All England Club verliert. Sogar Prinzessin Kate spendet Trost.

Von Barbara Klimke, London

Sobald der letzte Ball den Rasen berührt hat, macht sich in einem Arbeitsraum des All England Clubs der Silberschmied ans Werk. In die schwere Schale, die seit 1886 als Preis im ältesten Frauentenniswettbewerb der Welt dient, wird ein weiterer Name eingraviert. Und als der Teppich auf dem Rasen ausgerollt war und Prinzessin Kate in ihrer Rolle als Schirmherrin des Clubs die Trophäe aushändigte, hatten die Championships von Wimbledon eine neue Siegerin - ungesetzt und unerwartet: Marketa Vondrousova.

Die 24-jährige Tschechin aus Sokolov, nur die Nummer 42 der Weltrangliste, besiegte mit großer Ruhe und Übersicht die Favoritin des Publikums, die Tunesierin Ons Jabeur 6:4 und 6:4. Den einzigen unkontrollierten Augenblick in diesem 80 Minuten langen Finale gestattete sie sich, als sie sich nach dem Matchball ins Gras fallen ließ. Dann kniete sie auf dem Rasen, als müsse sie einen Moment Einkehr halten, um zu begreifen, dass sie zwölf Monate nach ihrer dritten Operation am Handgelenk nun diese Schale, die Venus Rosewater Dish, in den Fingern halten durfte.

"Ich weiß gar nicht, was hier gerade passiert ist. Ich hatte vor einem Jahr noch einen Gipsverband", erzählte sie in ihrer Rede ans Publikum. Ihr Mann, ein in Prag arbeitender IT-Spezialist, war zum Finale angereist, ebenso die jüngere Schwester, auch Jan Kodes, tschechischer Wimbledonsieger von 1973, saß in ihrer Box. Vondrousova war im vergangenen Jahr wegen ihrer Verletzung nur als Touristin nach London gereist und verbrachte die Zeit mit Sightseeing und Shopping, sie erinnerte daran, dass sie zu kleinen Turnieren hatte tingeln müssen, um sich wieder Matchpraxis zu erspielen. Auch die Organisatoren im All England Club hatten sie kaum auf der Rechnung - und nicht auf der Setzliste. Und so ist sie nun die erste ungesetzte Rasensiegerin der Turniergeschichte. "Tennis ist verrückt", sagte sie.

"Dies ist der schmerzhafteste Punkt meiner Karriere", sagt Ons Jabeur

Ihre Gegnerin, Ons Jabeur, 28, stand weinend neben ihr. Zum zweiten Mal nacheinander hatte sie ein Wimbledonfinale verloren, und wie im Vorjahr, als sie sich der Kasachin Elena Rybakina geschlagen geben musste, unterliefen der Weltranglistensechsten aus Tunesien uncharakteristisch viele Fehler auf dem Centre Court. "Dies ist der schmerzhafteste Punkt meiner Karriere", sagte sie, als sie sich die Tränen aus den Augen wischte, und fügte mit einem Anflug von Selbstironie hinzu: "Ich werde hässlich aussehen auf den Fotos." Der Applaus der Zuschauer konnte sie so wenig aufmuntern wie Kate, die Prinzessin von Wales, die sie tröstend in den Arm nahm. Auch von Marketa Vondrousova erhielt sie aufrichtigen Zuspruch. "Du bist so eine Inspiration für uns alle", sagte sie, an die Kollegin gerichtet, "und eines Tages wirst du hier gewinnen."

Royale Aufmunterung: Ons Jabeur (links) erhält Zuspruch von Kate, der Prinzessin von Wales. (Foto: Dylan Martinez/Reuters)

Ons Jabeurs Hoffnungen waren darauf gerichtet, dass ihr Name als erster einer Athletin aus Tunesien, aus dem arabischen Raum, aus ganz Afrika auf der Venus-Rosewater-Schale verewigt wird. Ihr Traum hat sich wieder nicht erfüllt. Jabeur hat oft darüber gesprochen, dass sie mit ihrem Spiel, ihren internationalen Erfolgen Vorbild und Inspiration sein will - für tennisspielende Kinder, aber auch für die Frauen in der Welt. Drei Grand-Slam-Finals, die US Open 2022 eingeschlossen, hat sie nun verloren. Bei der Suche nach den Gründen vermutete John McEnroe, ein ausgezeichneter Kenner der Tennispsyche, beim britischen Sender BBC, dass sich Jabeur zu viele Erwartungen aufbürdet. Die Erwartungen eines ganzen Kontinents sind für eine 1,67 Meter große Person vielleicht doch etwas zu viel.

31 unerzwungene Fehler Jabeurs sind eine zu hohe Hypothek

Zu Beginn des Finals am Samstagnachmittag hatte sich Jabeur einen kleinen Startvorteil erspielt. Sie kannte ja die Arena in dieser Finalstimmung aus dem Vorjahr: den bis unters Dach gefüllten, 15 000 Menschen fassenden Centre Court, der wegen einer Unwetterwarnung geschlossen war, die fiebrige Spannung in der Luft, das Wispern auf den Rängen, das von einer Sekunde zur nächsten einer absoluten Stille weicht.

Jabeur sicherte sich die ersten beiden Punkte. Doch ihr Aufschlag war nicht gut genug und zu berechenbar an diesem Tag. Sie verlor direkt im Anschluss ihr Serve-Spiel - und kurz darauf auch die Kontrolle über dieses weitgehend zerfahrene Tennismatch, in dem es insgesamt zehn Service-Breaks in 17 Spielen gab.

Vondrousova, die 2019 bei den French Open ebenfalls schon ein Grand-Slam-Finale verloren hatte, behielt die Nerven. Damals bei der Niederlage gegen Ashleigh Barty, so erzählte sie, sei sie erst 19 Jahre alt gewesen und völlig überfordert mit der Situation, dem enormen Interesse, das ihr Fortkommen in der Tennisnation Tschechien erregte: "Es war ein solcher Stress. Es ging so schnell, ich wurde förmlich überrollt, es hat kein bisschen Spaß gemacht." Falls sie jemals wieder in diese Lage kommen würde, so schwor sie sich, wolle sie ihren Aufritt genießen.

So nah nebeneinander und doch ganz unterschiedliche Gefühlswelten: Marketa Vondrousova (links) strahlt, Ons Jabeur lächelt traurig. (Foto: Andrew Baker/AP)

Am Samstag zirkelte sie die Bälle in atemraubenden Winkeln aufs Feld und gewann, als sie die Führung erobert hatte, fünf Punkte nacheinander. Erst beim 1:1 im zweiten Satz konnte Ons Jabeur ihr wieder den Aufschlag abnehmen. Doch die tunesische Ballartistin demonstrierte zu selten ihr Können, 31 unerzwungene Fehler in einem Grand-Slam-Finale waren eine zu hohe Hypothek.

Marketa Vondrousova, die unverhoffte Siegerin, beendete das größte Match ihrer bisherigen Karriere mit einem Rückhand-Volley - obwohl sie beim Matchball vor Aufregung kaum atmen konnte, wie sie später gestand. Sie ist nun die dritte Wimbledonsiegerin ihres Landes nach Jana Novotna (1998) und Petra Kvitova (2011, 2014); die große Martina Navratilova hatte als US-Amerikanerin gewonnen. Ihr Trainer wird sich ein Tattoo stechen lassen müssen - Vondrousova hat davon bereits reichlich -, weil er eine Wette über den Turnierverlauf mit ihr verloren hat.

Und Ons Jabeur, die große Verliererin, versprach unter Tränen, die kleine Siegerschale der Unterlegenen im Arm: "Ich werde nicht aufgeben, ich werde stärker zurückkommen und gewinnen." Als Beispiel nimmt sie sich nun die früheren Kolleginnen Kim Clijsters und Chris Evert, zwei Grand-Slam-Siegerinnen, die sie in der Kabine empfingen und ihr Mut zusprachen. Beide hatten ebenfalls schmerzliche Finalniederlagen zu verwinden, ehe sie triumphierten. Kim Clijsters sogar vier Mal.

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