Werder gegen den HSV:Die wahre Mutter aller Derbys

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Das 100. Nordderby soll auch die Abstiegssorgen von mindestens einem Verein beenden. Hier kämpfen Bremens Nils Petersen (links) und Hamburgs Jonathan Tah um den Ball (Archivbild). (Foto: Axel Heimken/dpa)

Bremen und Hamburg sind die großen Absteiger des deutschen Fußballs: Das 100. Nordderby entscheidet mit darüber, wer sich in der ersten und wer in der zweiten Liga neu erfinden muss. Die Tatsache, dass beide Vereine tief unten im Keller stehen, hat sie allerdings einander nicht näher gebracht.

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Vor knapp fünf Jahren, genauer: am 7. Mai 2009, stand an anderer Stelle in dieser Zeitung eine lange Reportage. Anlass war das ungewöhnliche, viermalige Aufeinandertreffen zweier Fußballvereine binnen weniger Tage. Natürlich sind es zwei besondere Fußballvereine gewesen, Platzhalter für die Städte, aus denen sie kommen. Fußball überhöht alles.

Großes Hamburg, kleines Bremen. Stolze Hansestadt, geprügelte Schwester. So ging das damals anlässlich der Festspiele zwischen Werder Bremen und dem Hamburger SV 2009. In 19 Tagen ging es um den Einzug ins Uefa-Cup-Endspiel, um die Reise zum DFB-Pokalfinale nach Berlin und um einen Platz in der Champions League. Es ging damit auch um eine Menge Geld und um noch mehr Stolz. Aus Sicht der Beteiligten ging es um alles. An diesem Samstag geht es um mehr.

Die Rivalität zwischen Hamburg und Bremen ist alt

Damals wurde eine Papierkugel zum Symbol, geworfen von HSV-Fans in einem von zwei Uefa-Cup-Halbfinals. Der Hamburger Abwehrspieler Michael Graavgard wurde davon irritiert, sein Rückpass zum Torwart rutschte ins Aus, Ecke für Werder, Tor. Die Kugel stand fortan für Hamburger Überheblichkeit, die aus der Größe und Schönheit dieser Stadt erwachsen ist, und für Bremer Pfiffigkeit, entstanden aus deren hellwacher Gemütlichkeit. Die Kugel liegt heute im Werder-Museum, aber wer sie anschaut, wird traurig. Sie sieht aus wie zerknülltes Papier.

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Keine Begegnung hat es in der Bundesliga häufiger gegeben als diese, zum 100. Mal treffen sich beide Klubs. Allein deshalb ist Werder gegen den HSV (Samstag, 15.30 Uhr) die wahre Mutter aller Derbys, egal, was die im Westen sagen. Die Rivalität zwischen Hamburg und Bremen ist so alt wie die Hanse, also sehr, sehr alt. Die Städte liegen nur knapp 100 Kilometer auf der A1 auseinander, aber sind doch Welten voneinander entfernt.

Dass Werder und der HSV gerade jetzt, vor diesem historischen 100. Spiel, tief unten im Keller der Tabelle stehen, bringt sie einander nicht näher. Die Krisen sind aus unterschiedlichen Gründen entstanden, sie werden unterschiedlich gemanagt, und sie rufen vollkommen unterschiedliche Reaktionen hervor. Es ist ein wahres Fest für Analytiker.

Der HSV, so sehen es zumindest Werder-Fans, ist auf dem Weg nach ganz unten vergangene Woche nur kurz gestolpert. 3:0 gegen Dortmund, ein Versehen. Womöglich werden die Hamburger diesen Sieg noch teuer bezahlen, teurer als den Verein all die Abfindungen kommen, die er für frühere Sportdirektoren, Trainer, Scouts oder irgendwelche Berater derselben zu zahlen hat. Denn der Sieg gegen Dortmund, diese urplötzlich wieder aufflammende Euphorie, hält den Hamburger SV auf seinem Kurs, den er seit Jahren fährt. Er führt direkt gegen die Wand.

Immer wieder kommt ein neuer Trainer, und immer wieder geht es irgendwie gut. Jetzt eben Slomka. Und immer näher kommt die Wand. Generationen von Fußballlehrern haben den aktuellen Kader zusammengestellt, wechselnde Sportchefs, unterschiedliche Vorstände und ein sich ständig austauschender Aufsichtsrat halfen dabei. Ein großes Ganzes, ein Plan? Fehlanzeige. Der HSV muss groß erscheinen, das ist stets das Ziel, er wird geführt von ehrbaren Geschäftsleuten und Politikern der Stadt, die sich in den Debattierklubs an der Alster nicht schämen wollen für ihr Hobby. Also werden Löcher gestopft, indem man neue aufreißt, um den Schein zu wahren, es bräuchte nur mal eine gute Saison, und alles wäre wieder gut.

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Der Hamburger SV kann es also doch noch: Beim Debüt von Trainer Mirko Slomka gelingt den Norddeutschen ein überzeugendes 3:0 gegen den BVB. Weil die Borussia es zulässt, spielen die Hamburger mit neuem Selbstbewusstsein - und schaffen den ersten Erfolg der Rückrunde.

Von Saskia Aleythe, Hamburg

Schlacht um die Hamburger Vereinsstruktur

Nichts wird gut. In den einschlägigen Nachwuchskadern des DFB steht kaum ein Hamburger, und die mal Hamburger waren wie Shkodran Mustafi, sind jetzt weit weg - der gerade in die deutsche Nationalelf berufene Mustafi etwa in Genua. Um die neue Vereinsstruktur ist eine Schlacht im Gange wie um die Staatsform in einem postrevolutionären Land. Maßstab ist immer der FC Bayern, kleiner geht es nicht, wenn der Milliardär Klaus-Michael Kühne im Hintergrund wartet, um bei Gelegenheit sein Geld in den Verein zu schütten.

Und all diese ausbleibende Bescheidenheit mündet nahtlos in eine aufgeheizte Affäre auf den Rängen, in Aggressionen der Fans gegen die eigenen Spieler, gegen Sachen, gegen den Sportsgeist. Sich klein zu fühlen in einem so großen Körper, das kann eben wütend machen.

Und in Bremen? Ist die neue Bescheidenheit schon so tief eingesickert, dass das Publikum wohl auch auf den Sitzen stehend klatschen wird, wenn es am Ende um einen Punkt nicht zum Klassenerhalt gereicht haben sollte. Sie haben's ja versucht.

Was der HSV zu viel an Selbstbewusstsein hat, hat Bremen zu wenig. Dort, wo das Schöne im Fußball zu Hause war, hat die sportliche Leitung - Geschäftsführer Thomas Eichin und Trainer Robin Dutt - gründlich aufgeräumt. Manche Fans glauben schon, sie hätten sechs Champions-League-Teilnahmen, das Double 2004 und alle Siege gegen den HSV samt Papierkugel 2009 nur geträumt. Ein kleiner, wehrhafter Verein wollen sie jetzt sein, der kein Geld hat, aber sich aus sich selbst erneuert. Der Unterbau des Klubs braucht aber auch noch ein paar Jahre, bis sich so etwas wie Mainz oder Freiburg simulieren lässt.

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Vor seiner HSV-Premiere gegen Borussia Dortmund baut Trainer Mirko Slomka die verunsicherte Mannschaft mit Gesprächen auf - und schüttelt die Aufstellung durcheinander. Für Kapitän Heiko Westermann könnten die Veränderungen unangenehme Folgen haben.

Von Jörg Marwedel

Dabei war es in Bremen einmal so: Obwohl es dort mehr Armut, weniger Bildungschancen, eine kürzere Lebenserwartung, mehr Sozialhilfeempfänger, weniger Verbrechensaufklärung und mehr Einbrüche gibt als sonst in Westdeutschland - es gab trotzdem den SV Werder. Hamburg zu besiegen, die Bayern oder Real Madrid, das kompensierte alle Minderwertigkeitskomplexe in 90 Minuten. Jetzt reicht es auch im Weserstadion nurmehr zum Schulterschluss aller Zukurzgekommenen, was zwar grundsympathisch ist, weil so friedlich und sportlich, aber irgendwie auch ein bisschen mutlos. Werders jüngere Geschichte fühlt sich an wie ein Lottogewinn, der am Ballermann vertrunken wurde.

Werder, HSV: Einer von beiden, so viel Fatalismus muss sein, wird auf einem der letzten drei Plätze landen. Spätestens dann ist es Zeit für eine große Reportage.

© SZ vom 01.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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