Vierschanzentournee:"Gänsehaut und Fieber"

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Schon zur Qualifikation kamen 16 000 Zuschauer nach Oberstdorf. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Die erste Tournee nach der Corona-Pause empfinden die Skispringer als besonderes Glück. Zum Finaltag in Oberstdorf werden 27 000 Zuschauer erwartet.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Zahlreiche Themen werden im Skispringen gewälzt, von der Hocke bis zur Landung, vom richtigen Ski bis zum richtigen Psychologen. Da ist es doch bemerkenswert, dass nahezu alle Skispringer kurz vor der aktuellen Vierschanzentournee immer wieder ein recht banales Thema aufgegriffen haben: das Publikum.

68 Ausgaben lang war es selbstverständlich, dass sich bei der Tournee Fans und Springer gegenseitig Grundsätzliches gegeben haben, die einen den Lärm, die anderen die Show. Dann folgten zwei Corona-Jahre der bleiernen Stille in den Stadien. Zugeschaut haben nur Arbeitende, Trainer, Sicherheitsleute oder Reporter. Die standen dann herum, hörten im Finale die Krähen krächzen und betrachteten die Schneehäufchen auf den Sitzschalen.

Einer springt schief
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Vor dem Auftakt in Oberstdorf stehen fünf Springer im Fokus: Ein Pole mit Hubschrauber-Technik, ein stabiler Slowene, ein fröhlicher Österreicher, ein Deutscher mit Heimvorteil - und ein Norweger mit Schlagseite.

Von Volker Kreisl

Es war eine leicht depressive Stimmung, aber damit ist es nun vorbei, und von selbst stimmen die Springer immer wieder die Botschaft an: Vor allem sei es jetzt wichtig, dass endlich wieder Zuschauer da sind. Andreas Wellinger etwa freute sich auf die "beste Stimmung im ganzen Jahr" und in Oberstdorf auf "das Fahnenmeer der eigenen Fans", dem er in Qualifikation und Finale (Donnerstag, 29.12.) entgegensegeln werde. Sein Trainer, der Österreicher Stefan Horngacher bestätigt, dass die Coaches auf ihrem Hochstand gleich unterhalb der Schanze sehr wohl alles miterleben: "Das gibt a geile Stimmung" mit "Gänsehaut und Fieber". Am treffendsten aber fasste es der Österreicher Stefan Kraft mit den Worten zusammen: "Das gibt a Megastimmung, das Herzerl wird a bisserl schneller schlagen."

Schon die Mannschaftsvorstellung geriet zur Party

Berichte über die Publikumsstimmung sind oft banal, aber in diesem Jahr wird sie zum zentralen Thema der Vierschanzentournee. Die Herzen der Springer werden nämlich weiter schlagen, in Garmisch, Innsbruck und Bischofshofen, und anfangs in Oberstdorf dürfte es traditionell besonders laut werden. Schon die Mannschaftsvorstellung geriet zur Party in Übergröße mit Fahnenmeer. Die Qualifikation am Mittwoch war überdurchschnittlich besucht, der Finaltag des Auftaktspringens am Donnerstag ist ausverkauft: 27 000 Zuschauer werden erwartet.

Fans bei der Qualifikation zum Springen. (Foto: Imago/MIS)

Das Glück, das die Sportler hier preisen, hat Gründe. Denn Skispringen ist ein Sport, dessen Erfolg mehr als in vielen anderen Disziplinen vom Publikum abhängt. "Ich will Spaß haben", sagt der aktuelle Weltcup-Zweite, Anze Lanisek aus Slowenien, dann habe er auch Erfolg. Das wird im Springerzirkus jeder bestätigen. Um in diesen Zustand zu gelangen, braucht es aber die richtigen Bewegungen in der richtigen Zehntelsekunde, weshalb man das Denken ausschalten und sich dem eigenen, verinnerlichten Sprungablauf einfach hingeben sollte. Und was könnte dafür förderlicher sein als ein hüpfendes Skispringer-Herzerl im tosenden Lärm?

Genuss statt Anstrengung: Skispringen ist kein Gewichtheben

Zudem, es ist gar nicht ungerecht, dass sich Skispringer im Gegensatz zu etwa Gewichthebern eben nicht anstrengen, sondern hingeben sollen. Denn ihr Sport lastet immer auch mal schwer auf ihnen, wenn die Form über Monate klemmt. Wenn dann aber alles wieder von selbst ineinandergreift, ist die Chance groß für einen außergewöhnlichen Augenblick. Der Sportpsychologe Oskar Handow sagte anlässlich der zurückliegenden Skiflug-WM 2022, dass das Flugerlebnis einem Rausch gleiche, von dem die Springer in frühen Jahren durchaus abhängig würden - was für das Selbstspüren immer noch besser sei, als würden sie sich etwa durch Ritzen verletzen.

Die Aufregung ist auf einem Bakken wie der Schattenbergschanze in Oberstdorf ähnlich groß. Skispringer Richard Freitag hatte einmal im Internetportal Sportbuzzer beschrieben, wie der Ablauf eines gesamten Sprunges aussehe. Schon zu Beginn, wenn der Sportler im Aufzug zum Turm hinauffährt und sich in die wartenden Springer einreiht, lässt das die Aufregung steigen. Sobald er sich in die Spur begibt, verschwinde das Denken, weil für mehr als einen Gedanken ohnehin kein Platz sei: "Der Puls steigt, das Herz schlägt schneller. Der Körper ist in Bereitschaft, abzuheben."

In der Luft, zumal wenn der Sprung zu gelingen scheint, setze zunächst eine Art klares Erleben ein, "du spürst, wie die Luft dich umströmt, das Rauschen am Helm ist intensiv", sagt Freitag. Der Springer schaut hinaus ins Tal, dann auf den Absprunghang und dessen Ende. Alles wird klar vor Augen. Nach 50 Metern empfindet der Fliegende reine Freude, sein Körper schüttet Glückshormone aus, die Anspannung lässt nach, er liegt stabil auf der Luft.

Wie jeder Rausch hat jedoch auch dieser eine verhängnisvolle Seite, insbesondere der Rausch vom Auftaktspringen in Oberstdorf. Denn die Statistik besagt, dass nur gut ein Drittel aller Auftaktsieger auch die Tournee gewann. Und von den zwölf Deutschen, die zuletzt in Oberstdorf gewannen, brachte niemand den Vorsprung bis ins Ziel von Bischofshofen. Womöglich überdeckt dieses Glück doch manche Anstrengung in Oberstdorf, die sich dann im Laufe der Tournee bemerkbar macht - in dieser Zuschauerpremiere nach Corona womöglich umso mehr. Dennoch, die Stille der vergangenen Jahre will keiner mehr.

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