Einer springt schief:Das sind die Favoriten bei der Vierschanzentournee

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Halvor Egner Granerud driftet im Sprung immer leicht auf die rechte Seite. (Foto: Thomas Bachun/IMAGO/GEPA pictures)

Vor dem Auftakt in Oberstdorf stehen fünf Springer im Fokus: Ein Pole mit Hubschrauber-Technik, ein stabiler Slowene, ein fröhlicher Österreicher, ein Deutscher mit Heimvorteil - und ein Norweger mit Schlagseite.

Von Volker Kreisl

An diesem Donnerstag beginnt in Oberstdorf die 71. Vierschanzentournee - diesmal ohne einen klaren Favoriten. Aber es gibt sehr wohl aber eine Handvoll Skispringer, die man wegen ihrer aktuellen Form unbedingt beachten sollte. Ein Überblick:

Den Hubschrauber hinter sich: Dawid Kubacki

Sah man ihn in den vergangenen Wintern fliegen, beobachtete man ihn, wie er aufgestiegen war vom Schanzentisch in die Luft, mit ausgebreiteten Gliedmaßen, den Helm nach vorne gestreckt, auf einem Luftkissen eher langsam nach unten tuckernd, dann erinnerte das gesamte Bild durchaus ... ja, tatsächlich: an einen Hubschrauber.

Dawid Kubacki ist keiner jener Springer, denen schon in Jugendjahren großes Talent verheißen war. Er ist auch nicht jener Typ, der mit Fleiß und Akribie fehlende Begabung wettmacht und besonders viel trainiert. Eher schon ist er ein Spieler, ein Mensch, der gerne experimentiert, der den Trainingsplan zwar beachtet, aber sich auch zum Beispiel durch sein Hobby verbessert. Ein Hobby, das ihm Erkenntnisse fürs Skispringen liefert, denn Kubacki fliegt Modell-Hubschrauber. "Hubschrauber!", wohlgemerkt, "keine Drohnen!", sagt er, "das kann jeder."

Nur, all die wunderbaren Erkenntnisse über Thermik, Wind und Aerodynamik hatten ihn zwar zu einem guten, aber noch nicht zu einem exzellenten Skispringer gemacht. Kubackis Karriere verlief wechselhaft, wie die eines Spielers, der mal besser, mal schlechter gelaunt ist, der mal bei der Tournee gleich zu Beginn aus den Favoritenrängen rausfliegt und sie wenig später gewinnt, 2020 war das.

Dawid Kubacki. (Foto: Gabriel Monnet/AFP)

Kubacki passt nicht in die üblichen Karriereschablonen, weshalb es auch gar nicht verwundert, dass er nun, mit 32 Jahren, offenbar durchstartet. Kubacki springt auf einmal derart sicher und technisch sauber, dass es wirkt, als wolle er in einem Monat alles aufholen, was er einst leichtfertig verspielt hatte. Das muss man erst mal schaffen, 15 Jahre auf internationalem Niveau zu springen und dennoch erst neun Weltcupsiege errungen zu haben - vier davon aber gerade eben erst, im November und Dezember.

Nun führt er deutlich im Weltcup, hat somit Selbstvertrauen, was er auch dem neuen Trainerteam um den österreichischen Chefcoach Thomas Thurnbichler verdankt. Dieser hat Kubacki, der zuvor beim Fliegen die Skier zu steil und leicht bremsend gegen das Luftkissen gestellt hatte, dazu gebracht, nach vorne zu drehen, womit er nun aerodynamischer, schneller und weiter fliegt.

Mit anderen Worten, der Hubschrauber ist jetzt ein Jet.

Aus dem Labyrinth: Anze Lanisek

Auf den ersten Blick ist die Sache wie immer klar: Da hat einer sein Talent offenbar verschwendet. Gewiss, Skispringer brauchen einige Jahre, bis alle Abläufe sitzen und ein Absprung gelingt, der sie weit nach unten trägt. Meistens bewegt sich die Entwicklung von den hinteren Rängen langsam, aber sicher nach vorne. Bei Anze Lanisek, 26 Jahre alt und aus dem Städtchen Menges in Oberkrain/Slowenien, war das anders. Seine bisherige Laufbahn erscheint eher als Lauflabyrinth mit rasanten Phasen und plötzlichen Stopps, mit mühsamem Neuaufbau und langen Suchen nach der richtigen Sprungform.

Aber das ist nun egal, denn Lanisek hat die Jahre der oft schwierigen Entwicklung offenbar hinter sich. Seit diesem Sommer und dann, für jeden ersichtlich, seit Beginn der aktuellen Saison 22/23 ist er Teil des Erfolgsquartetts, das sich nun schon knapp zwei Monate ganz vorne im Gesamtweltcup hält. Elf Jahre lang erschien er den Beobachtern als schwer berechenbar, aber nun ist er voll da.

Eingestiegen war er im November in Wisla/Polen beim ersten Weltcup mit einem 25. Platz. Aha, typisch Lanisek, konnte man daraus schließen. Er hatte ja seinen ersten Weltcupsieg letzte Saison gefeiert, nun war sein Höhenflug im Tableau offenbar schon wieder vorbei. Doch bereits im zweiten Springen von Wisla, einen Tag später: Platz zwei. Seitdem hat er die Top Vier nicht mehr verlassen, und spät wird jetzt deutlich: Lanisek hat sein Talent keineswegs verschwendet. Seine Gesamtbilanz vor der Tournee 2023: Die Plätze 25, 2, 1, 4, 1, 2, 1, 3.

Anze Lanisek. (Foto: Manuel Geisser/Imago)

Hinter dem Polen Dawid Kubacki ist Lanisek gerade der Zweitbeste dieses Winters, mit einer solch starken Serie ist der Slowene bislang nicht aufgefallen. Aus dem kleinen Land kommen regelmäßig starke Springer, in den vergangenen Jahren überraschten etwa die noch jungen Brüder Prevc, insbesondere Peter und Domen, oder auch Jurij Tepes, der 2020 das Skispringen aufgegeben hat. Im Gegensatz zu jenen bereits jung erfolgreichen Teamkollegen könnte auch Anze Lanisek, wenn er seine Form bewahrt, vor einer endlich beachtlichen Karriere stehen - knapp elf Jahre, nachdem für ihn alles angefangen hatte, bei den Jugendspielen in Innsbruck, gleich mit dem größten Erfolg: der Goldmedaille.

Schräger Vogel: Halvor Egner Granerud

Dieser Skispringer hat alle Qualitäten, er ist stark im Absprung, er verfügt über ein sensibles Gespür für die Anströmungen weit oben im Wind, und ohnehin kann Halvor Egner Granerud geschmeidig landen. Wie alle guten Springer war der momentan Vierte des Gesamtweltcups auch ein aufmerksamer Zuhörer seiner Trainer in den Lehrjahren und nun auch seines Nationalcoaches, des Österreichers Alexander Stöckl. Schließlich ist er wie alle Springer auch ein Tüftler, wenn es darum geht, alles zu versuchen, um sich zu verbessern. Nur eines kann er nicht: geradeaus fliegen.

Granerud hat einen Rechts-Drive. Steuert er durch die Luft, so ähnelt er einem Auto mit Platten vorne rechts, oder einem Propellerflugzeug mit leichtem Ruderschaden. Tatsächlich hat Granerud in seiner Absprung- und Flughaltung bei der Arm- und Beinstellung gewisse Asymmetrien, worin Stöckl die Ursache des schrägen Flugs ortet. Soll er halt symmetrischer fliegen, könnte man ihm leicht raten - jedoch, dies ist Skispringen, da sind simple Lösungen selten.

Halvor Egner Granerud. (Foto: Terje Pedersen/NTB/Imago)

Mit seiner bizarren Performance hat Granerud schließlich viel erreicht, den Gesamtweltcup 2021 zum Beispiel gewonnen, zudem war er Dritter der Tournee 2022. Und selbst wenn er wollte - so eine Flugposition ist ein sensibles System. Allgemein erklärt: Begradigt man etwa am rechten Fuß eine Fehlhaltung, beschert einem das Unterbewusstsein womöglich eine für den Flug schädliche Veränderung an der linken Schulter. Und das, obwohl viele Monate Arbeit investiert wurden. Schließlich, wer sagt schon, dass Granerud dann auch wirklich nennenswert weiter fliegt?

Momentan halten sich die Trainer jedenfalls zurück. Granerud gehört zu den Favoriten dieser 71. Tournee, er springt in Bestform, nur eben mit Rechtsdrift, der ja für sich keine Abzüge in der Haltungsnote nach sich zieht. Irgendwann aber, sagt Stöckl, komme man nicht umhin, zumindest einen Teil des Winkels zu verkürzen. Dass er, wie einst schon geschehen, auf der Folie neben dem Schanzenzaun landet, das sollte möglichst nicht mehr passieren.

Guter Gastgeber: Stefan Kraft

Stefan Kraft ist kein Freund von verborgener Freude. Wenn er sich gut fühlt, dann hält er sich nicht zurück. Er zählt nicht zu jenen Sportlern, die ihre Form verbergen, ihre Hoffnungen zurückhalten und erst mal abwarten, was der nächste Tag bringt. Geht es ihm gut und ist er fit, dann trifft er den Absprung und fliegt weit - und teilt dieses Hochgefühl mit seinen Teamkollegen, mit seinen Fans, mit der Presse, ach, mit der ganzen Welt: "Es ist ein super Supersaisonstart. Es fühlt sich an wie der beste", sagte er im Schweizer Weltcuport Engelberg bei der traditionellen Medienrunde kurz vor der Tournee. Kraft ist seit Saisonbeginn wieder in jener Verfassung, in der er seine Flugkunst voll entfalten kann, die ihn weit nach unten bringt: "Es fühlt sich alles sehr, sehr gut an. Es fühlt sich auch körperlich sehr, sehr gut an."

Stefan Kraft. (Foto: Manuel Geisser/Imago)

Das hängt auch damit zusammen, dass er eine Phase körperlicher Blessuren hinter sich hat. So etwas bremst den Trainingseffekt, und es kann sich schnell auf die Sprungform auswirken. Doch dieses bedrückende Tal ist nun offenbar durchschritten. Stefan Kraft erklärt, er sei wieder auf dem Niveau von vor drei Jahren, als er den Gesamtweltcup gewonnen hat, was man ja auch in seiner Position im aktuell laufenden Gesamtweltcup sieht: Dritter ist er. "Ich kann wieder richtig mit Gewichten in der Kraftkammer Gas geben," ergo: "Ich bin wieder der alte Krafti!"

Schließlich fühlen sich auch die österreichischen Skispringer ein bisschen als Gastgeber der zweiten Tourneehälfte und irgendwie dazu verpflichtet, mal wieder die Tournee zu gewinnen. Immerhin, die Voraussetzungen sind dieses Jahr nicht die schlechtesten. Die österreichische Favoritenlast liegt auf vier Schultern: Auch Manuel Fettner ist wieder fit, wie er mit Platz zwei in Engelberg - kurz vor der Tournee - gezeigt hat. Acht Jahre ist es schon wieder her, dass ein Österreicher die Tournee gewonnen hat, der Name dieses Siegers: Stefan Kraft.

Belebender Sturz: Karl Geiger

Kann in einem Sturz auch etwas Gutes stecken? Kann es sein, dass ein Crash bei rund 90 Stundenkilometern vielleicht sogar etwas Heilendes hat? Ja, ein Sturz kann etwas Belebendes haben, eine unbewusste Änderung im Ablauf einleiten, ein Problem aufbrechen, jedenfalls in leicht verrückten Sportarten wie dem Skispringen.

Karl Geiger, der zurzeit beste deutsche Springer, hatte sich über viele Wochen einer Bestform angenähert, er machte im Training leichte Fortschritte, flog aber überwiegend zu kurz. Dann kam der Weltcup in Engelberg und der letzte Versuch, in dem man sich vor der Tournee selbst beweisen konnte: Ich kann's ja doch! Innerhalb von wenigen Sekunden hatte Geiger dort sein vielleicht entscheidendes Erfolgserlebnis. Er erwischte einen pünktlichen Absprung, flog endlich mal richtig weit, so weit wie nie in dieser Saison, setzte in der Zone der Besten auf, verzog allerdings seinen rechten Ski, kugelte in den Schnee, stand sogleich unverletzt auf und spazierte hinaus.

Karl Geiger. (Foto: Frank Hörmann/Sven Simon/Imago)

Sofort setzte das Interpretieren ein, das Psychologisieren und Prognostizieren, das in diesem Sport noch etwas mehr anhebt. Nicht nur die große Weite war ein entscheidender Gewinn - Geiger hätte ohne Patzer wohl auf dem Podium gestanden -, sondern auch der Sturz, dessen Kräften er mit einer Rolle auf den Rücken trotzte, weshalb er unverletzt blieb. Weiterhin zählt er nicht zu den unmittelbaren Favoriten, dennoch könnte sich das bald ändern.

Fortschritte hatte beim zurückliegenden Weltcup bei den Deutschen auch Andreas Wellinger gemacht, Markus Eisenbichler braucht dagegen wohl noch Geduld. Dessen Zimmergenosse Geiger hat indes nun weitere Vorteile. Neben dem insgesamt aufbauenden Sturzflug kann Geiger zum Tournee-Auftakt auf seiner bestens bekannten Hausschanze in Oberstdorf springen, kann seine Familie treffen, und sich von diesem Momentum weitertragen lassen.

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