Männerfinale bei den US Open:Überraschung!

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Steht wieder im Endspiel: Daniil Medwedew. (Foto: Al Bello/Getty Images via AFP)

Nicht Carlos Alcaraz, sondern Daniil Medwedew erreicht das Männerfinale bei den US Open. Es kommt zur Neuauflage des Endspiels 2021 gegen Novak Djokovic - und der Russe hat wegen seiner Spielweise gute Chancen auf den Triumph.

Von Jürgen Schmieder, New York

Final Curtain. Das war die Geste, die Daniil Medwedew nach dem 7:6, 6:1, 3:6, 6:3 präsentierte. Es ist ein Jubel, den vor allem Computersportler - Medwedew zockt nicht nur leidenschaftlich gerne, er hat ein E-Sport-Startup gegründet - verwenden, wenn sie was Außerordentliches geschafft haben und das der Welt (und den Gegnern) zeigen wollen: Man lässt seine Figur im Applaus baden, mit zur Seite ausgestreckten Armen, dann schwingt man einen Arm vor dem Körper und wieder nach außen. Final Curtain, letzter Vorhang, und dann: Take a Bow, Verneigung.

Er hatte wirklich eine Galavorstellung geliefert; noch viel besser, als er davor angekündigt hatte: "Ich habe gesagt, dass ich elf von zehn bringen muss, um eine Chance zu haben", sagte er angesichts dessen, dass - um bei dieser Zahlen-Analogie zu bleiben - elf von zehn Experten das Duell Alcaraz gegen Novak Djokovic prognostiziert hatten im Finale. Überraschung!, war Medwedews Antwort auf die Experten, und er wusste danach auch, wie genau ihm das gelungen war: "Ich habe Zwölf von Zehn gespielt. Das war aber auch nötig; du musst gegen jemanden wie Carlos besser sein als du selbst."

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Auf Deutsch: über sich hinauswachsen, und Medwedew hat die spielerischen Fähigkeiten, genau das zu tun, weil er an seinen Gegnern wachsen kann. Die Leute rätseln ja noch immer, wie sich jemand mit seiner Körpergröße (er misst 1,98 Meter) derart geschmeidig bewegen kann, zum Beispiel beim 40-Schläge-Ballwechsel im vierten Satz: Alcaraz treibt Medwedew hin und her; der Russe läuft erst in Richtung Balljungen-Ausgang in der rechten Ecke, dann zum Tunnel der Fotografen links - und dann schupft er einen seiner genialen Stopps cross übers Netz. Das ist allerdings nicht wie sonst der Vorhang zu diesem Ballwechsel; Medwedew erreicht den Ball und spielt ihn gegen die Laufrichtung von Alcaraz ins Feld - jetzt fällt der letzte Vorhang.

Faszinierend ist nicht nur, dass Medwedew diese Schläge der Gegner erreicht, sondern auch, wie er sie zurückspielt. Gleicher Ballwechsel: Die erste krachende Vorhand von Alcaraz (bei der er zum Balljungen-Ausgang hetzt) spielt er kraftvoll cross zurück - elf von zehn anderen Profis würden eine defensivere Variante wählen. Auf die zweite Monster-Vorhand würden die meisten wieder einfach nur versuchen, den Ball irgendwie ins Feld zu kriegen - aber er reagiert mit einem Zauber-Rückhand-Cross-Passierball. Und den Stopp spielt er auch nicht irgendwie zurück, sondern: überlegt, ja fast gelassen.

Zweites Beispiel, diesmal aus dem zweiten Satz: Alcaraz ist wieder der dominante Spieler, er umläuft seine Rückhand und prügelt den Ball die Linie runter. Erstens: Medwedew ahnt das und läuft schon vor dem Schlag los, die meisten würden da schon eher mit einem Cross-Schlag rechnen. Er erreicht den Ball, und kann mit Vorhand-Slice retten. Alcaraz ist ans Netz gestürmt und drückt den Ball locker auf die Rückhand von Medwedew. Wieder: kein Vorhang für den Ballwechsel, Medwedew ist zur Stelle und reagiert mit einem Rückhand-Slice-Passierschlag die Linie lang, den man seit Steffi Graf nicht mehr so perfekt ausgeführt gesehen hat.

Carlos Alcaraz ist der geschlagene Spieler - viele hatten mit einem Finaleinzug gerechnet. (Foto: Manu Fernandez/AP)

"Solche Matches passieren", sagte Alcaraz danach, und es ist erstaunlich, wie er danach analysierte. Klar, er pries die Leistung von Medwedew, aber er nahm die Stärke seines Gegners nicht als Ausrede. Denn, um das ganz deutlich zu sagen: Alcaraz hat ebenfalls fantastisch gespielt, er fand eher: "Er hat richtig, richtig gut gespielt, es war ein richtig gutes Match. Ich habe keine Lösungen gefunden. Ich habe gedacht, dass ich als Spieler weiter bin, dass ich Lösungen finde, wenn eine Partie nicht so läuft, wie ich das will. Ich bin aber nicht erwachsen genug für solche Matches - ich muss nach dieser Partie umdenken." Frage: Wann hat ein 20-jähriger Profisportler nach einer bitteren Niederlage jemals so gesprochen?

Medwedew ist an Titelverteidiger Alcaraz gewachsen und auch am Publikum, das einen Sieg des Spaniers regelrecht herbeijubeln wollte. Bereits seit 2019 pflegt Medwedew die innige Beziehung zu den New Yorkern, auch heuer gab es bereits einige prächtige Momente, weil Medwedew es liebt, provoziert zu werden und selbst zu provozieren; es wirkt manchmal wie: Taxifahrer gegen Fußgänger zwischen 9th Avenue und 51. Straße in Manhattan. Medwedew genießt und fördert das. Was er jedoch nicht leiden kann: wenn es unfair wird, wenn also Leute direkt vor seinem Aufschlag stören, wie es zahlreiche Fans des Spaniers immer wieder getan haben. "Das waren 1000 Leute, die zwischen dem ersten und zweiten Aufschlag gebrüllt haben. Das war nicht so nett, aber wahrscheinlich waren sie verzweifelt. Ich bin froh, dass es nicht geholfen hat - denn sie können nun schlafen gehen."

Fast alle hatten mit einem Finale Alcaraz gegen Djokovic gerechnet

Tatsächlich hatten, gerade nach den wahnwitzigen Finals von Wimbledon (Alcaraz gewann) und zuletzt in Cincinnati (Djokovic triumphierte), viele mit einem erneuten Duell zwischen Alcaraz und Djokovic gerechnet. Der erledigte seine Aufgabe am Freitagnachmittag recht schnell gegen Ben Shelton (6:3, 6:2, 7:6), doch weil am Abend Medwedew gewann, kommt es nun zur Neuauflage des Endspiels von 2021. Zur Erinnerung: Medwedew gewann damals glatt in drei Sätzen und verhinderte den Grand Slam von Djokovic - der diese Niederlage allerdings als einen der schönsten Momente seiner Karriere bezeichnete, weil ihn dieses New Yorker Publikum währenddessen endlich ins Herz schloss.

"Wenn Novak verliert, dann ist er danach nicht mehr der gleiche", sagt Medwedew: "Es ist ganz einfach eine andere Mentalität, deshalb hat er 23 Grand-Slam-Titel. Das muss ich wissen: Er wird zehnmal so gut sein wie damals, also muss ich zehnmal so gut sein wie damals, wenn ich gegen ihn gewinnen will. So einfach ist das: Ich muss besser sein, als ich bin."

Medwedew hat bewiesen, dass er mit Djokovics Besonderheiten zurechtkommt

Das Faszinierende: Medwedew kann so was; er kann am Gegner wachsen, genau deshalb gilt er in diesem Duell nicht als chancenlos, im Gegenteil: Seine Spielweise ist gefährlich für Djokovic, weil Medwedew bewiesen hat, dass er mit der Einzigartigkeit von Djokovic (laut Andy Roddick: "Erst nimmt er dir die Beine, dann die Seele.") umgehen kann: Niemand nimmt Medwedew die Beine, und niemand nimmt seine Seele - der Mann läuft und spielt bis zum letzten Vorhang.

Über sich hinauswachsen, damit er danach wieder einen Jubel aus einem Computerspiel präsentieren kann - zur Erinnerung: 2021 war es nach dem Sieg gegen Djokovic und seinem ersten und bislang einzigen Erfolg bei einem Grand-Slam-Turnier: Dead Fish aus dem Fußball-Spiel Fifa.

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