US Open:"Irgendwann wird einer sterben, werdet ihr schon sehen"

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34 Grad hatte es beim Match - Medwedew klagte über Atemprobleme, ließ sich ein Spray geben und gewann. (Foto: Javier Garcia/Shutterstock/Imago)

Radikal ehrlich, emotional und aufbrausend - danach wieder reflektiert: Das ist Tennisprofi Daniil Medwedew, der in New York eine besondere Beziehung zum Publikum pflegt und die Bedingungen kritisiert.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es kann keine Liebesbeziehung geben, die so aufrichtig, innig und intensiv ist wie die zwischen Daniil Medwedew und den New Yorkern. Das Publikum pfeift, er reagiert mit provokanten Gesten. Jemand brüllt vor Aufschlägen, um ihn zu stören, er sagt danach: "Ich will nicht die Partnerin des Typen sein. Da kann doch keiner schlafen, wenn der die ganze Nacht ,Vamos, vamos, vamos' brüllt." Eine junge Zuschauerin flaniert locker die Treppen runter, statt sich wie vom Schiedsrichter gefordert schnell einen Platz zu suchen: "Sag mal, bist du dumm oder was?" Die Frau wirft ihm einen sarkastischen Handkuss zu, Medwedew rollt die Augen mit Todesblick.

Wer jemals eine Stunde in dieser Stadt verbracht hat, der weiß: So kommunizieren New Yorker, wenn sie einander respektieren. "Fuck you" unter Autofahrern in Manhattan bedeutet: "Alles klar, dir auch einen schönen Tag."

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Daniil Medwedew, 27, ist New Yorker, und als solcher spielt er sich quasi unbemerkt durchs Turnier. Am Mittwoch gegen seinen russischen Kumpel Andrej Rublew. Bei unmenschlichen Bedingungen - selbst beim Nichtstun sah man nach 20 Minuten aus, als wäre man in einen Pool gehüpft - gewann er nach knapp drei Stunden. Die Partie hätte keine Minute länger dauern dürfen, währenddessen sagte Medwedew: "Irgendwann wird einer sterben, werdet ihr schon sehen." Danach sagte er: "Ich habe auch keine Lösung; man kann das Turnier ja nicht einfach vier Tage lang anhalten - ich will nur was gesagt haben, bevor was passiert." So ist Medwedew: radikal ehrlich, auch mal emotional und aufbrausend; danach jedoch reflektiert, über sich und seinen Sport.

Zwei Sätze hat der US-Open-Sieger von 2021 bisher verloren, ansonsten seziert er die Gegner mit dieser Mischung aus taktischer Finesse und gelassener Effizienz. Es scheint fast so zu sein, als würde er nur deshalb mit dem Publikum kommunizieren, damit es nicht gar so langweilig wird. Das wird sich nun freilich ändern, im Halbfinale trifft er auf Carlos Alcaraz, 20. Es dürfte ein taktisch interessantes, spektakuläres Match werden - wie das eben ist, wenn der derzeit dominanteste Spieler auf einen trifft, der wie Medwedew alles erläuft und jederzeit kontern kann.

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Das Wunderbare an Medwedew, neben der einzigartigen Spielweise - er ist ein Hybrid aus Marathonläufer und taktischem Genie -, ist die entwaffnende Selbstreflexion. Er spricht offen über Fehler. Etwa nach dem verlorenen Satz gegen Christopher O'Connell, als er den Turnierarzt kommen ließ und auf die Frage, was er denn brauche, sagte: "Was du ihm vor dem Satz gegeben hast - ich hab' ihn nämlich verloren."

Er tut es auch im Umgang mit Trainer Gilles Cervara, der während einer Partie auch mal geht, wenn ihn Medwedew nervt. Und im Umgang mit den eigenen Nerven. Im Frühjahr sagte er in Indian Wells über sein Verhalten: "Das war doch nicht so gut von mir. Da muss ich an mir arbeiten und fragen: Was bringt es mir, wenn ich mich so verhalte? Also nicht nur sagen: Das muss besser werden - sondern es auch tun."

Und er tut es im Umgang mit New York. Er hat eine Botschaft an jene, die diese wunderbare Liebesbeziehung nicht verstehen wollen: "Jetzt heißt es wieder: Oh mein Gott, hat er schon wieder Streit mit dem Publikum. Das stimmt nicht; mein Verhältnis zu den Leuten hier ist amazing." Das Wort kann von erstaunlich zu grandios, von verwunderlich bis großartig alles bedeuten, und natürlich verwendet es Medwedew genau deshalb. Wie ein echter New Yorker.

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