Ben Shelton bei den US Open:Er nimmt die Zuschauer mit in seinen Kopf

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Das Michael-Jordan-Achselzucken hat Ben Shelton auch in seinem Repertoire - neben vielen anderen Gesten. (Foto: Corey Sipkin/AFP)

Der 20-jährige Ben Shelton begeistert mit seinem Halbfinaleinzug das Publikum bei den US Open. Er ist ein Typ, wie sie ihn in den USA lieben: selbstbewusst an der Grenze zu Arroganz.

Von Jürgen Schmieder, New York

Als alles vorbei war und die Leute die beiden Teilnehmer dieser besonderen US-Open-Partie so richtig feierten, blickte Ben Shelton kurz zu seinem Vater Bryce in die Box. Für einen kleinen Moment wirkte er nicht selbstbewusst, sondern unsicher, ungläubig: Jubeln die wegen mir? Habe ich mir das tatsächlich verdient? Passiert das gerade wirklich?

Ja, es passierte tatsächlich. Shelton hatte im Viertelfinale der US Open seinen amerikanischen Landsmann Frances Tiafoe 6:2, 3:6, 7:6 (7), 6:2 besiegt, er hatte sich den ohrenbetäubenden Lärm redlich verdient. Und er musste mit seinen gerade mal 20 Jahren alles aushalten, womit die Amerikaner eine Tennispartie aufladen können bei ihrem Heim-Grand-Slam, der nicht nur packende Spiele liefern soll, sondern mitreißende Geschichten. Bestenfalls über Amerikaner.

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Diese Partie zog ihre Faszination nicht aus taktischer Finesse, sie war auch spielerisch kein Leckerbissen. Es war eher wie eine Kneipenprügelei, bei der zwei Wüteriche wild um sich schwingen in der Hoffnung, irgendwie mehr Treffer landen zu können als der andere. Und sie zog ihre Spannung daraus, was Tiafoe davor so beschrieben hatte: "Zwei Amerikaner, zwei Afro-Amerikaner; im Stadion, das nach Arthur Ashe benannt ist. Das ist eine große Nacht für People of Color."

Vor 55 Jahren hat Ashe die US Open gewonnen, er ist noch immer der einzige Schwarze, dem das gelungen ist. Nein, kein Gendern-Fehler an dieser Stelle, Women of Color ist das ja bereits öfter gelungen: Althea Gibson 1957 zum Beispiel und den Williams-Schwestern insgesamt acht Mal. Auch das Finale 2018 zwischen Naomi Osaka und Serena war ein Endspiel zwischen zwei People of Color.

Nun also Shelton gegen Tiafoe, und es gewann am Ende wirklich der, der häufiger traf: 150 der 230 Ballwechsel wurden per Winner oder leichtem Fehler entschieden. Bei den Fehlern lagen sie fast gleichauf (Shelton machte einen mehr: 34), Shelton schaffte aber 50 Gewinnschläge im Gegensatz zu Tiafoes 33, und er feierte jeden einzelnen mit Gesten aus einem reichen Fundus an fröhlichen Bewegungen.

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Shelton posiert auch mal wie ein Proficatcher

Man muss sich Shelton auf dem Platz vorstellen wie einen Kommentator, der radikal ehrlich ausspricht, was er gerade über Ben Shelton denkt. Nach dem ersten Satz bellte er zu seinen Begleitern: "Herrgott, ich bin krass langsam unterwegs." Nach einem gefühlvollen Cross-Passierschlag: "Ooooooh, das war gut!" Aber auch, nach einem völlig missglückten Stopp: "Heieiei, war das unnötig!" Oder als ihm sein Vater Bryce, einst Tennisprofi und jetzt der Trainer des Filius, von der Box aus mitteilte, er solle doch ein bisschen häufiger ans Netz rücken, Shelton das tatsächlich tat und nach einem Zucker-Stopp zum Papa deutete und damit sagte: Da hast du Recht gehabt - guter Hinweis!

Er nimmt die Zuschauer also mit in seinen Kopf, und so hat es etwas Authentisches, wenn er nach einem tollen Ballwechsel wie ein Proficatcher posiert oder sich gegen den Bizeps klopft. Es ist etwas völlig anderes, wenn sich einer ehrlich freut und das Publikum mitreißt, als wenn einer die Leute mit Jetzt-macht-doch-mal-ein-wenig-Lärm-Gewinke animiert, wie das so viele Profis bei den US Open tun. Jubel ist wie ein Spitzname: sollte man nie fordern, muss man sich verdienen.

Das Kapitel US Open endet für Frances Tiafoe in diesem Jahr im Viertelfinale. (Foto: Eduardo Munoz Alvarez/dpa)

Tiafoe hat sich beides verdient mit seinem unfasslichen Run im vergangenen Jahr, als er mit einem Sieg über Rafael Nadal ins Halbfinale stürmte und die Aufsteigergeschichte erzählte, die sie so lieben in diesem Land: armer Junge, dessen Vater in einer Tennisakademie schuftete, der den Sport probierte und sich damit ein Stipendium an einer Uni sichern wollte. Auf dessen Armband "Warum nicht ich?" stand, eine Botschaft an sich - aber auch an andere, wie er sagte: "Wenn nur ein schwarzes, unterprivilegiertes Kind wegen mir Tennis spielt, habe ich etwas erreicht."

Das war vor einem Jahr. Nun erzählt Shelton die neue Geschichte, das war in dieser Nacht im Arthur Ashe Stadium deutlich zu hören: Niemand wollte Tiafoe verlieren sehen, klar, aber sehr viele wollten dann doch, dass Shelton gewinnt. Die Story von Shelton: Mega-Talent aus der oberen Mittelschicht, Star im US-College-System - der vor den Australian Open in diesem Jahr, wo er das Viertelfinale erreichte, die USA nicht verlassen hatte. Ein Lausbub, der gerne grinst und Blödsinn macht; einen, den sie in Deutschland wohl zu aufgedreht und zu optimistisch fänden, wie sie ihn in den USA aber lieben: cocky, also selbstbewusst an der Grenze zu Arroganz.

"Good Vibes" nennt Shelton das, wenn er tolle Schläge wie den Return zur Satzball-Abwehr im dritten Durchgang mit Michael-Jordan-Achselzucken feiert. Oder seinen Erfolg, indem er, der als Kind tatsächlich noch ein Fetstnetz-Telefon im Elternhaus in Atlanta hatte, die Hand zum Hörer formt und auf die Gabel legt als Zeichen: kein Anschluss unter dieser Nummer mehr. "Good Vibes" nennt er auch die Beziehung zum Vater - der ihm vor dem Matchball mitteilte: "Pass auf, da kommt ein guter Return, sei bereit." Es kam ein guter Return, Shelton war bereit. Also: Anruf beim Vater per Handzeichen, Auflegen, Schluss. "Er gibt mir immer, was ich brauche", sagte er danach: "Das kann taktischer Rat sein oder positive Energie."

Kein Anschluss unter dieser Nummer: Ben Shelton. (Foto: Mike Segar/Reuters)

Nun ist er der jüngste Amerikaner im US-Open-Halbfinale seit Michael Chang 1992, und er trifft dort auf einen, der, wie Shelton sagt, "schon 23 dieser Dinger gewonnen hat". Novak Djokovic ist der Gegner, und der steht im Verdacht, dass er gegen Laslo Djere in der dritten Runde nur deshalb die ersten beiden Sätze verloren hat - alle andere Partien gewann er glatt -, um zu sehen, wie sich das anfühlt, 0:2 hinten zu liegen.

"Hey Leute", rief Shelton den Zuschauern auf dem Weg vom Arthur Ashe Stadium zur Arthur-Ashe-Statue zu: "Vielleicht schaut ihr ja vorbei am Freitag und feuert mich ein bisschen an." Deren Reaktion: Sie werden da sein, und zwar zuhauf.

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