Champions League:"Nach dem Abpfiff habe ich den Fußball kurz gehasst"

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Der Blick geht trotz der Niederlage nach oben: die Union-Kicker Kevin Behrens, Christopher Trimmel und Leonardo Bonucci (v. l.). (Foto: Matthias Koch/Imago)

Bei ihrem Debüt in der Königsklasse lernen die Fußballer des 1. FC Union Berlin auf bittere Weise die Magie des Bernabéu-Stadions kennen. Doch der Stolz überwiegt trotz der späten Niederlage.

Von Javier Cáceres, Madrid

Es hatte auch etwas Gutes, dass das Debüt des 1. FC Union Berlin in der Champions League am Mittwoch auf 18.45 Uhr, auf die frühestmögliche Anstoßzeit, verlegt worden war. Denn in den Bars rund um das Estadio Santiago Bernabéu von Real Madrid war die letzte Runde noch fern, als die Berliner Anhänger in ihren roten Hemden aus dem Stadion kamen und sich an der Calle del Padre Damián und dem Paseo de la Castellana auf den Terrassen niederließen. Sie genossen den lauen Sommerabend, die cervezas und klatschten sogar dann noch freudig mit, wenn die Madridistas vor Hohn triefende Gesänge anstimmten, die ihnen, weil des Spanischen nicht mächtig, unverständlich waren. Es fügte sich bestens ein in die bizarre Gemengelage: Die Berliner hatten 0:1 verloren. Doch unter ihren Anhängern war niemand zu finden, der sich die Laune hätte verderben lassen wollen.

Wie Schiffbrüchige auf hoher See hatten sich die Unioner an einer Holzplanke festgehalten, Angriffswelle um Angriffswelle geschluckt und doch den Kopf noch über Wasser gehalten. Doch als eine Rettung namens Schlusspfiff nahe war, rutschten sie ab: blubb, blubb, blubb, nach 93 Minuten und 20 Sekunden durch ein Tor des ehemaligen Dortmunders Jude Bellingham, der nun in fünf von sechs Spielen für Real Madrid getroffen hat. "Wir alle kennen doch die Magie dieses Stadions", lautete der Kommentar von Real Madrids Verteidiger Nacho, während sein Trainer Carlo Ancelotti an die DNA des Rekordsiegers der Champions League erinnerte: "Der Geist dieses Trikots bedeutet, den Glauben (an den Sieg) bis zum Schluss zu bewahren." Beziehungsweise: den Gegner zu erdrücken, wenn die Spiele dahinsiechen.

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Dass der 1. FC Union diese Magie nun aus eigenem Erleben kennt, war vielen Köpenickern genug, um die Brust stolzgeschwellt durch die spanische Kapitale zu tragen, und zwar aus gutem Grund: Sich gut vier Jahre nach dem ersten Bundesliga-Aufstieg der Vereinsgeschichte das Recht zu erkämpfen, im Bernabéu um Königsklassenpunkte aufzutreten, klingt immer noch so, als würde die Punkband Die Ärzte von der Mailänder Scala eingeladen, La Traviata aufzuführen. Was allerdings nicht heißen soll, dass der Ton, den Union im Bernabéu anschlug, massiv dissonant geklungen hätte.

"Aber am Ende ist Fußball immer gerecht", sagt Union-Trainer Urs Fischer

Auch bei Reals Coach Ancelotti klang viel Anerkennung für die defensive Organisation der Berliner durch, was sich unter anderem darin äußerte, dass er seinen Verteidiger Antonio Rüdiger zur wichtigsten Figur seines Teams erklärte: Rüdiger habe die möglichen Konter der Berliner erstickt; gegen tiefstehende Gegner sei es besonders wichtig, maximale Aufmerksamkeit walten zu lassen. So war es möglich, dass Bellingham noch zum Zuge kommen konnte - und dem Duell eine späte Wendung gab, die dem Spielverlauf entsprach. Er sei "natürlich enttäuscht", sagte Urs Fischer, Trainer des 1. FC Union: "Wenn dir eine Minute fehlt, um einen Punkt aus Madrid mitzunehmen, ist das verständlich. Aber am Ende ist Fußball immer gerecht."

Denn die Überlegenheit der Madrilenen war tatsächlich erdrückend an diesem Abend: 32 Mal zielten sie aufs gegnerische Tor, zwei Mal trafen sie den Pfosten, und sie halfen Unions Torwart Frederik Rönnow, sich mit glänzenden Paraden international einen Namen zu machen. Allein der ehemalige Bundesligastürmer Joselu, der sich weder bei Eintracht Frankfurt noch in Hoffenheim hatte durchsetzen können und nun bei Real den nach Saudi-Arabien abgewanderten Karim Benzema ersetzet, gab acht Torschüsse ab.

Dann aber fiel doch der Siegtreffer, und die Szene ließ den Berliner Stürmer Kevin Behrens an eine Billiard-Karambolage denken: Federico Valverde schoss nach einer kurzen Ecke von der Strafraumkante, von einem Abwehrbein sprang der Ball dem defensiven Mittelfeldspieler Alex Kral an die Wade, von dort vor die Torlinie - und dort war Bellingham im Stile eines Abstaubers alter Schule zur Stelle. Brutal? Brutal!

"Nach dem Abpfiff habe ich den Fußball kurz gehasst", sagte Unions Abwehrspieler Robin Gosens. Ähnlich empfand es wohl Italiens Europameister Leonardo Bonucci, der am Mittwoch im Bernabéu im Union-Trikot debütierte. "Es ist schade. Wir haben eine großartige Partie gezeigt und haben uns nichts vorzuwerfen. Aber in diesem Stadion darfst du nichts hergeben, bis abgepfiffen wird", sagte Bonucci dem TV-Sender Sky Italia.

Bonucci spricht, als wäre er im Schatten der Alten Försterei aufgewachsen

Auch er hatte eine aufopferungsvolle Partie geboten, die ihn überdies intellektuell forderte. Bonucci musste sofort die Abwehr kommandieren und erledigte das mit Bravour, Kollegen und Vorgesetzte waren voll des Lobes. "Er hat viel Erfahrung und Ruhe am Ball, das spürst du als Verteidiger und Torwart", sagte Keeper Rönnow. Behrens nannte ihn einen "Top-Typen mit Top-Qualität". Und Trainer Fischer war vor allem "von der Spieleröffnung und der Antizipation" angetan, die Bonucci, 36, an den Tag legte: In der zweiten Halbzeit "in zwei, drei Situationen hat er dadurch Aktionen des Gegners unterbunden". Nach 80 Minuten musste Bonucci dann wegen muskulärer Probleme vom Platz, wie Fischer erklärte. Ob er am Samstag gegen Hoffenheim spielen kann, war zunächst offen.

Diese muskulären Probleme sind auch auf die inexistente Saisonvorbereitung des Italieners zurückzuführen, der erst vor wenigen Wochen in Köpenick unterschrieben hat. Der Europameister von 2021 war bei Juventus Turin regelrecht gemobbt und vom Mannschaftstraining ausgesperrt worden. Umso freudiger nahm er nun die Gelegenheit wahr, wieder auf dem Platz stehen zu dürfen: "Mein Ziel war es bislang nur, wieder in Form zu kommen, nachdem ich zwei Monate lang nur allein trainieren konnte", sagte Bonucci. Nun wolle er seinen neuen Mitspielern dabei helfen, "größer zu werden".

Er gestand zwar ein, dass es "seltsam" sei, ein anderes Trikot als das schwarz-weiß gestreifte von Juventus überzuziehen; immerhin hatte er für die Turiner in mehr als 500 Spielen auf dem Platz gestanden. Dennoch: Er spricht schon jetzt, als wäre er im Schatten der Alten Försterei in Köpenick aufgewachsen, als habe er in Hörweite von Trainer Fischer gelebt. "Wir kennen unsere Werte, kämpfen um jeden Ball, und ich bin mir sicher, dass wir mit diesen Werten eine großartige Saison spielen werden", versprach Bonucci. Und er betonte, was der Abend im Bernabéu auch markierte, Niederlage hin oder her: "Union hat einen unglaublichen Weg hinter sich."

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