Tour de France:Erst kommen die Bilder - dann kommt der Sport

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Die Motorräder im Nacken: Das Duell zwischen Tadej Pogacar (rechts) und Jonas Vingegaard soll stets möglichst aus der Nähe gefilmt werden. (Foto: Bernard Papon/dpa)

Ein kurioser Vorfall im engen Duell zwischen Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar illustriert die erstaunlichen Prioritäten der Tour-Macher. Schöne Bilder und Nähe zu den Zuschauern scheinen bisweilen wichtiger zu sein als die Fahrer.

Von Johannes Aumüller, Saint-Gervais-les-Bains/Morzine

Ein bisschen gequält wirkte das Lächeln schon, als Mauro Gianetti am Tag danach noch mal über diese ungewöhnliche Szene sprechen sollte. Links und rechts von ihm wuselten die Mechaniker seiner UAE-Equipe umher, um die letzten Vorbereitungen vor dem Start der Etappe nach Saint-Gervais-les-Bains zu treffen, neben dem Mannschaftsbus stand der umstrittene Schweizer Teamchef - und versuchte, die Sache abzuwiegeln. "Es ist schade, aber es ist, wie es ist, und wir denken nicht mehr darüber nach", sagte Gianetti: "Wir können nicht verändern, was passiert ist, und wir können nicht sagen, wie die Etappe ohne Motorrad gewesen wäre."

Motorrad, das war das entscheidende Stichwort für die Königsetappe der Alpen nach Morzine. UAE-Kapitän Tadej Pogacar, 24, und Gelb-Träger Jonas Vingegaard, 26, vom Team Jumbo haben sich in den ersten zwei Dritteln der Frankreich-Schleife eine Sekundenschlacht geliefert, die es so noch nie gegeben hat in 120 Jahren Tour-Geschichte. Da kommt es nun wirklich auf jedes Detail an. Und auf dem bisher schwierigsten Abschnitt der Tour war ein sehr großes Detail nun: der Einfluss zweier Motorräder.

Kurz vor dem Gipfel des Col de Joux Plane war Pogacar mit einer Attacke zwar etwas von Vingegaard weggekommen, aber nicht genügend. Beide machten etwas langsamer, für kurze Zeit fuhren sie durchs enge Spalier der Zuschauer sogar nebeneinander und wirkten dabei so entspannt wie ein Liebespaar, das gerade die Seine entlangradelt. Doch dann griff Pogacar noch mal an, er wollte mit aller Macht die Maximalzahl an Bonussekunden, die es oben auf dem Gipfel geben würde. Doch er kam nicht weit, weil zwei Begleitmotorräder - eines zuständig für Fernsehbilder, eines für Fotoaufnahmen - wegen der vielen Zuschauer nicht rechtzeitig davonbrausen konnten und seine Attacke so abblockten. Pogacars Kraft war dahin, Vingegaard im Spurt auf dem Gipfel der Frischere, der drei Bonussekunden gutmachte statt drei zu verlieren.

Das ist nun eine Szene, die unabhängig vom weiteren Verlauf und dem Ausgang der Tour Gesprächsstoff bleiben dürfte (zumal die Etappe am Sonntag, die der Niederländer Wout Poels gewann, im Kampf ums Gelbe Trikot keine Veränderung brachte). Denn der Motorrad-Vorfall illustriert die manchmal erstaunlichen Prioritäten der Rundfahrt-Veranstalter. Das Thema Fairplay ist ein Dauerbrenner im Radsport, auch abseits der Frage, was es gerade Neues gibt in der Welt der pharmazeutischen Spezialsubstanzen. Immer wieder kommt es zu solch rennbeeinflussenden Eingriffen von außen durch Zuschauer oder Motorräder. Und auch wenn sich das nie gänzlich wird vermeiden lassen, fragt sich, warum die Radsport-Organisatoren nicht entschiedener dagegen vorgehen.

Der spektakulärste dieser Fälle ereignete sich 2016 am Mont Ventoux, als die Straße vor dem Briten Christopher Froome so verstopft war, dass der sich für eine Weile joggend und dann auf einem Jugendrad fortbewegte. Immer wieder lösen Zuschauer Unfälle aus, erst am Sonntag war das wieder der Fall, und bisweilen sogar nach (!) einer Etappe, wenn Profis und Zuschauer dieselbe Straße für die Abfahrt von einem Berg nutzen. Und der Einfluss der Motorräder ist auch ein Dauerthema. Oft versuchen die Fahrer, diese in ihrem Sinne zu nutzen: Dann springen sie noch schnell hinter die Fahrzeuge und nutzen deren Windschatten, um eine Attacke zu verstärken oder um sich an die ausgerissenen Kontrahenten heranzusaugen.

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Die Tour de France hat die Motorradfahrer bald nach der Pogacar-Blockade sanktioniert: 500 Franken Strafe plus eine Etappe Sperre. Aber das war ein bezeichnender Move. Denn es mag zwar im konkreten Fall ein Fehlverhalten zweier Motorradfahrer gewesen sein, aber die Rundfahrt schafft auch Bedingungen, die solche Situationen heraufbeschwören. Bilder sind nun mal das Heiligste für die Tour, die von der Landschaft und den kämpfenden Pedaleuren in Nahaufnahme; und manchmal wirkt es so, als seien die Bilder heiliger als die Fahrer. Sehr viel tut die Tour, um möglichst spektakuläre Bilder zu ermöglichen - und daher lässt sie auch die Motorräder ganz nah an die Radprofis ran.

Gleichzeitig fragte nicht nur Jumbo-Sportdirektor Grischa Niermann nach der Etappe, warum an der Stelle eigentlich keine Absperrgitter standen; ungefähr 1,5 Kilometer vor einem Gipfel, vor dem schon jeder ahnen konnte, dass es dort zu Attacken kommen würde. Aber offenkundig ist es den Tour-Bossen ein Anliegen, dass die Zuschauer weiter nahe an die Fahrer herankommen können. Diese Nähe soll die Faszination der Rundfahrt nähren.

Das Motorrad-Opfer Pogacar gab sich hinterher ähnlich zurückhaltend wie sein Teamchef. Der Slowene ist erkennbar um ein anderes Image bemüht, seitdem seine dominierenden Auftritte 2020 und 2021 manche Beobachter verstörten. Im Vorjahr, als er Vingegaard unterlag, wirkte er manchmal fast glücklich, seinem Gegner gratulieren zu können. Und in Morzine beschied er knapp: "Es ist, wie es ist."

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