Bremerhaven im DEL-Finale:Von allen Zwängen befreit

Lesezeit: 6 min

"Ich schreie auch mal einen an. Aber ich schreibe keinen ab": Thomas Popiesch. (Foto: Thomas Hahn/Eibner/Imago)

Mit 17 muss Thomas Popiesch in der DDR für vier Jahre ins Gefängnis. Erst im zweiten Versuch glückt ihm die Flucht in den Westen. Nun hat er Bremerhaven aus der zweiten Liga ins Eishockey-Finale geführt. Gegner Berlin weckt Erinnerungen.

Von Johannes Schnitzler

Thomas Popiesch ist kein Revisionist. "Thomas Popiesch ist ein Mensch mit Charakter", sagt Alfred Prey. Prey hätte wohl mitbekommen, wenn es anders wäre. Der Manager hat die Fischtown Pinguins Bremerhaven in 32 Jahren erstligatauglich gemacht. Popiesch, der Trainer, hat den kleinen Klub von der Küste 2016 in die Deutsche Eishockey Liga geführt. Acht gemeinsame Jahre "sind doch schon fast wie eine kleine Ehe", sagt Prey. Was er besonders an Popiesch schätze: "Dass er nie nachtragend ist."

Man muss das im Hinterkopf haben, wenn Bremerhaven, Erster nach der Hauptrunde, nun zum ersten Mal im Finale um die deutsche Eishockey-Meisterschaft steht. Die Playoff-Serie startet an diesem Mittwoch (19.30 Uhr, Magentasport), wer zuerst vier Spiele gewinnt, ist deutscher Meister. Bremerhavens Gegner sind die Eisbären Berlin, der DEL-Rekordchampion. Ausgerechnet. Denn Thomas Popiesch, geboren 1965 in Ost-Berlin, hat eine komplexe Beziehung zu dieser Stadt und zum Vorläufer der Eisbären, dem SC Dynamo - dem "Stasiklub", bei dem seine Karriere begann.

"Ich besuche meine Familie", sagt Popiesch, seine Eltern und seine Schwester leben in Berlin. "Mein Vater ist jetzt 83, aber ist jedes Mal da, wenn wir in Berlin spielen. Er ist der verrückteste, der größte Fan von allen." Ansonsten habe er keine Bindung mehr zu seiner Geburtsstadt. "Emotional habe ich mich von Berlin vor 30, 40 Jahren getrennt." Zu der Zeit saß Thomas Popiesch in Berlin im Gefängnis.

"Als ich den Gamsbart gesehen habe, dachte ich, jetzt habe ich alles erreicht. Das Gefühl vergesse ich nie."

"Unser Fluchtplan basierte auf einem Erdkundeatlas für die achte Klasse": So hat es der Fotograf Andree Kaiser in dem Buch "Nur raus hier!" beschrieben. Kaiser und Popiesch waren Jugendfreunde, Popiesch einer der talentiertesten Nachwuchsstürmer der DDR. Bis es auf der Kinder- und Jugendsportschule zu einem "Vorfall" gekommen sei. Jemand hatte ein Bild aufgehängt, das angeblich den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker verunglimpfte. "Ich hatte damit nichts zu tun", sagt Popiesch. "Aber ich wurde für ein Jahr suspendiert. Damals habe ich das Gefühl entwickelt, du darfst nicht anders sein - und ich war immer ein bisschen anders." 14 Jahre alt war Popiesch damals.

Als Popiesch 17 wurde, war das Gefühl des Eingeengtseins unerträglich geworden. Bratislava in der damaligen Tschechoslowakei lag nahe der Grenze zu Österreich, so stand es im Atlas. Und so brach er eines Tages mit Kaiser Richtung Bratislava auf. Aber ihre Drahtscheren waren zu schwach, um den Zaun durchzuschneiden. Popiesch warf seinen Schlafsack über den Stacheldraht und kletterte einfach drüber. Weiter kam er nicht.

Popiesch hat die Geschichte schon öfter erzählt, und doch treibt sie Zuhörern jedes Mal Schauer über den Rücken. Seine Zukunft als Eishockeyspieler in der DDR war vorbei, das Gefühl, gefangen zu sein, nach der Entlassung nach fast vier Jahren Haft wegen Republikflucht in Bautzen, Frankfurt/Oder und Hohenschönhausen fast noch stärker. "Wenn man von 17 bis 21 im Gefängnis war, entwickelt man ein paar Bedürfnisse, kann man sich vorstellen", sagt Popiesch. Ein Jahr lang "war Party angesagt". Dann kam der Gedanke: Was machst du eigentlich? "Ich hatte zu viel Angst, noch mal erwischt zu werden, zu viel Angst, noch mal ins Gefängnis zu müssen." Trotzdem wagte er 1989 einen zweiten Versuch, über Ungarn und die grüne Grenze nach Österreich. "Aber ich habe im Wald völlig die Orientierung verloren und ich bin auf so einem Hochsitz eingeschlafen." Am nächsten Morgen weckte ihn ein Förster. "Als ich den Gamsbart an seinem Hut gesehen habe, dachte ich, der ist Österreicher. Das Gefühl vergesse ich nie. In dem Moment dachte ich, jetzt habe ich alles erreicht."

Endlich Profi: Thomas Popiesch in der DEL-Saison 1996/97 im Trikot der Frankfurt Lions. (Foto: Imago)

Mit 23 war Thomas Popiesch frei. Er spielte als Profi unter anderem für Duisburg, Krefeld, Frankfurt und Essen, ehe er Trainer wurde. Und 2016 nach Bremerhaven wechselte. "Das Ziel von Alfred und den Verantwortlichen hier war, eine Mannschaft zu formen, die in der DEL spielen kann. Dass wir die richtigen Charaktere holen", sagt Popiesch. "Wir haben nicht die Geldreserven wie Mannheim, Red Bull oder Ingolstadt. Wir müssen andere Wege finden." Sie fanden zum Beispiel Mike Moore. Der ehemalige NHL-Profi aus Calgary kam nach dem Aufstieg zu den Pinguins - und blieb sechs Jahre. "Er hat als Kapitän die Werte vorgelebt", sagt Popiesch, jene Werte, die heute Jan Urbas, Moores Nachfolger als Kapitän, tradiert.

Der Slowene Urbas, 2014 nach einem Jahr aus München weggeschickt, spielt seit 2017 für Bremerhaven. Über ihn kamen seine Landsleute Miha Verlic und Ziga Jeglic nach Bremerhaven. Zusammen sind sie besser bekannt als Karawankenexpress, der regelmäßig die Gegner überrollt. Urbas war der Topscorer der DEL-Hauptrunde. Oder Ross Mauermann: Der gebürtige Amerikaner mit dem deutschen Pass spielt seit dem Aufstieg für Bremerhaven. "Er ist hier verheiratet, er hat hier ein Haus gebaut - Bremerhaven ist sein Zuhause", sagt Popiesch.

"Als kleiner Verein versuchen wir, dass die Spieler sich wohlfühlen. Wir lassen ihnen Zeit." Man dürfe nicht unterschätzen, was in den Köpfen von Profis vor sich gehe, sagt Popiesch. Deshalb behandele er die Spieler so, wie er selbst gern behandelt worden wäre. "Ich respektiere jeden. Ich schreie auch mal einen an. Aber der weiß, dass er fünf Minuten später wieder eine Chance bekommt. Danach können wir ein Bier trinken zusammen, kein Problem. Niemand ist abgeschrieben." Das klingt wohl nicht zufällig nach einem Ort, an dem man sich geborgen fühlen kann. Ja, sagt Popiesch und lacht: "Und Alfred ist der Übervater."

Am Anfang wurden die Pinguins - Pinguins, ernsthaft? - belächelt. "Jetzt werden wir anders wahrgenommen."

Unterschätzen werden die Eisbären dieses Bullerbü-Bremerhaven sicher nicht, in der Hauptrunde gingen drei von vier Duellen an die Pinguine. Als sie als Nachfolger der Hamburg Freezers in die DEL kamen, wurden sie noch belächelt. Pinguins? Jawohl, Pinguins, kein verhunzter Anglizismus, sondern astreines Platt. Und Fischtown? Nun ja, Küstenhumor eben; auch "gallisches Dorf" lassen sie durchgehen. "Am Anfang haben wir mit diesem Underdog-Image gespielt", sagt Popiesch. Dann qualifizierten sich die Nordsee-Gallier Jahr für Jahr für die Playoffs - und nun für das Finale. Mit dem wahrscheinlich immer noch niedrigsten Etat der Liga, dafür einem ausgeprägten Gespür für Typen und Gelegenheiten. "Jetzt werden wir anders wahrgenommen." Christian Winkler, Manager des unterlegenen Halbfinalgegners Red Bull München, sagt: "Was in Bremerhaven in den vergangenen Jahren kontinuierlich aufgebaut wurde, ist wirklich sensationell."

Der letzte entscheidende Baustein in diesem Charakterpuzzle war Popiesch. "Er ist als Trainer eine Kapazität, geprägt von einer unglaublichen Fachkompetenz und einer analytischen Begabung, die es ihm ermöglicht, auch unter Druck Einfluss auf den Ausgang einer Partie zu nehmen", sagt Prey. "Für mich ist er der beste Trainer in der DEL." 2018 wurde Popiesch zum Trainer des Jahres gewählt, und immer, wenn in den vergangenen Jahren ein neuer Bundestrainer gesucht wurde, fiel sein Name. 2020 betreute er das DEB-Team einmal als Vertreter für den Covid-kranken Toni Söderholm. Ein festes Engagement ergab sich aber nie. Popiesch war mit Bremerhaven verheiratet.

Nach dem Finale könnte es zur Scheidung kommen

Das dürfte sich nach dem Finale ändern. Prey, 70, der das Projekt Bremerhaven als Manager und oberster Schnäppchenjäger über drei Jahrzehnte gepäppelt hat, zieht sich aus der ersten Reihe zurück und will sich künftig mehr um die Sponsorenpflege kümmern. Und Popiesch? Hat angeblich schon im Herbst seinen Wechsel zum ambitionierten Zweitligisten Krefeld besiegelt. Indizien gibt es: Popieschs Tochter lebt in Köln, seine Frau stammt aus Krefeld, die Familie hat dort ein Haus. "Aber das haben wir seit 20 Jahren", sagt Popiesch. Wenn er wechseln sollte, dann nicht des heimischen Herdes wegen, sondern weil er etwas gefunden hat, das ihn reizt, etwa "einen Standort aufzubauen", wie er sagt. "Ich könnte nicht als Feuerwehrmann wohin gehen. Es muss eine Basis geben. Kein Retortenklub." Krefeld als neues Bremerhaven? Eine Bestätigung ist Popiesch zwar nicht zu entlocken. Preys Eloge auf den Trainer aber lässt sich durchaus als Abschlusszeugnis interpretieren: "Thomas hat hier eine Ära mitbegründet und wird in der Historie des Bremerhavener Eishockeys immer einen Ehrenplatz einnehmen."

Der Coach und sein Nachfolger? Thomas Popiesch mit seinem Assistenten Alexander Sulzer. (Foto: Burghard Schreyer/Kolbert-Press/Imago)

Popiesch, 58, sagt, er sei dankbar. "Ich wüsste nicht, was heute wäre, wenn die zweite Flucht nicht geglückt wäre." So aber gebe es für ihn keinen Grund für Groll. "Ich hatte Freunde, durfte lange Eishockey spielen und mein Hobby zum Beruf machen. Alles Hätte, Wenn und Aber konnte ich streichen, weil sich alles für mich entwickelt hat."

Wie das Finale ausgeht? So oder so sind sie in Bremerhaven vorbereitet. Prey hat seinen Wunschnachfolger längst eingearbeitet, und neben Popiesch auf der Bank steht seit zwei Jahren Alexander Sulzer, 39, ehemaliger Nationalverteidiger und NHL-Profi, der bei der Nationalmannschaft Bundestrainer Harold Kreis assistiert - er dürfte Popiesch beerben. So ziehen die Pinguins, aufgeräumt wie ihr Trainer, in dieses Finale. Und wenn sie zum zweiten und mindestens zum vierten Spiel in Berlin antreten, wird der Vater von Thomas Popiesch wieder zusehen, wie immer, wenn Bremerhaven in Berlin spielt. Popiesch sagt: "Jetzt kann er sehen, dass es sich gelohnt hat."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Bremerhavens Eishockey-Manager Alfred Prey
:Ein Seebär aus der Oberpfalz

Bremerhaven, die selbst ernannte Eishockey-Diaspora, geht als Tabellenerster in die DEL-Playoffs. Für Manager Alfred Prey, "Mister Fischtown", Herz und Hausmeister des Klubs, kündigt sich nach mehr als 30 Jahren ein emotionaler Abschied an.

Von Christian Bernhard

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: