Bis heute ist nicht restlos erwiesen, wie Nadal diese körperlich scheinbar nie nachlassende Arbeit verrichten kann. Man weiß zwar, dass er unter den jahrelangen Belastungen immer wieder mal ächzt und gesundheitliche Verschleißerscheinungen hat, auch gravierendere. Aber spätestens Ende Mai, Anfang Juni ist eine Mensch gewordene Ballmaschine im Südwesten von Paris aktiv und treibt ihr Unwesen, jedenfalls für die Gegner. Die einzige Chance, die sich für Kontrahenten stellt, besteht darin, gegen Nadal über Schmerzgrenzen zu gehen. Nicht nachzulassen, sich nicht aufzugeben, auch wenn das Gefühl erst in die Fingerspitzen und dann in die Arme und Adern fließt und die Ahnung aufsteigt: Es gibt kein Entrinnen vor den Peitschenhieben von Nadal. Federer hatte nach seiner Niederlage das Eingeständnis gemacht, es sei zwecklos, bei der Vorbereitung auf ein Match gegen Nadal einen ähnlich spielenden Linkshänder zu suchen. Vielleicht gibt's den in einer fernen Galaxie. Aber nicht auf diesem Planeten.
Für Thiem gab es nur einen Ausweg: Er musste sich steigern und darauf setzen, dass Nadal einmal, selbst im minimalen Prozentbereich, Schwächen zeigen würde. Und genau diese Konstellation trat im zweiten Satz erstaunlicherweise ein. Bei einer 6:5-Führung gelang Thiem das Break, 7:5, Satzgleichstand. Der Jubel der 15 000 Menschen sprach Bände: Sie wollten einen harten, offenen Kampf sehen.
Nadal winkt Sieg Nummer 100 bei den French Open
Aber wie das so ist, wenn Nadal gereizt wird: Er wird dann sauer. Sauer im Sinne von: Okay, das Match beginnt jetzt! Nadal gewann die ersten elf Punkte des dritten Satzes und führte nach dreimal Luftholen mit 3:0 inklusive zweier Breaks. Den Durchgang konnte Thiem abhaken, dabei hatte er sich gerade erst über Satz zwei gefreut. Mit 1:6 rauschte Nadal über ihn hinweg.
Im vierten Satz gab es eine Millisekunde der Hoffnung für Thiem, er hatte im ersten Aufschlagspiel Nadals einen Breakball. Es folgte ein Vorhandhieb Nadals, mit dem normalerweise Bäume gefällt werden. All die gut gemeinten "Dominic! Dominic!"-Rufe vieler Zuschauer waren vergebens. Und nach drei Stunden und einer Minute lag Nadal im Sand.
Thiem dankte seinen Anhängern für die Unterstützung. Er liebe das Turnier aus ganzem Herzen. "Ich hoffe, ihr seid hier, wenn ich mal den Titel gewinne", sagte er und lächelte tapfer. Für 2020 sollte er sich nicht sofort große Hoffnung machen. Nadal hat in Paris nun 93 Matches erfolgreich bestritten. Sollte er im kommenden Jahr das Finale erreichen, könnte er mit dem 100. Sieg bei den French Open eine magische Zahl erreichen. Das nächste Ziel ist tatsächlich schon in Sicht.