Fußball:Zwischen Traum und Wirklichkeit

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Große Namen: die Trikotwand der Ehemaligen in der Aula der Walter-Klingenbeck-Realschule in Taufkirchen. (Foto: Michael Urlbauer/oh)

Seit 1999 kooperieren in München Kultusministerium, Verband und Profivereine in den "Eliteschulen des Fußballs". Ein Ortstermin in Unterhaching zeigt: Es ist ein Erfolgsmodell mit Schattenseiten.

Von Peter Linden

Der Sportpark Unterhaching gehört zu den wenigen Orten in Deutschland, an denen die Grenze zwischen Profifußballern und Normalbürgern noch verschwimmt. An diesem kühlen, aber sonnigen Spätvormittag lässt Trainer Sandro Wagner seine Viertligakicker gerade auf dem Kunstrasen Ballstafetten üben, während ein paar Meter weiter Kunden Waren aus dem Supermarkt schleppen. Die Tür zur Vereinsgaststätte der Spielvereinigung steht ebenso offen wie die zum Kabinentrakt, und auf der Terrasse davor sitzt mitten im Geschehen der ehemalige Bundesligaprofi und Vereinschef Manfred Schwabl. Von seiner Holzbank aus entgeht ihm nichts. Auch nicht, dass soeben eine Gruppe Kinder im Alter zwischen zehn und 13 Jahren aus einem silberfarbenen Kleinbus des Nachwuchsleistungszentrums steigt.

Schwabl, der jetzt auch in seinem Büro sitzen und den durchaus möglichen Aufstieg in die Dritte Liga planen könnte, kennt jedes der Kinder beim Namen. 29 seiner insgesamt 180 Jugendkicker besuchen eine der so genannten "Eliteschulen des Fußballs": die benachbarte Mittelschule am Sportpark, die Walter-Klingenbeck-Realschule in Taufkirchen oder das Theodolinden-Gymnasium unweit der Trainingsplätze der Ortsrivalen FC Bayern und 1860 München. Zweimal in der Woche zur Mittagszeit karren Kleinbusse die Talente zu Extraschichten auf das Vereinsgelände.

Die drei Schulen sind die auserwählten "Partnerschulen des Leistungssports", mit denen das Bayerische Kultusministerium, der Bayerische Fußball-Verband und die drei Münchner Profivereine seit mehr als 20 Jahren die Nachwuchsförderung im Fußball auf ein neues, höheres Niveau führen wollen. Vertraglich fixiert wurde die Vereinbarung unter anderem durch die Unterschriften von Franz Beckenbauer (FC Bayern), Karl-Heinz-Wildmoser (TSV 1860 München) und dem Vorgänger von Manfred Schwabl, Engelbert Kupka.

Der FC Bayern hat sich seit dem Umzug seines Nachwuchsleistungszentrums in die Nähe der Allianz Arena zusätzlich mit dem Gymnasium München-Nord und anderen Schulen zu einem ähnlichen Verbund im Münchner Norden zusammengeschlossen - dort allerdings in Partnerschaft mit dem Olympia-Stützpunkt. Der Vorteil: Die Kinder müssen zu den Trainingseinheiten nun nicht mehr durch die ganze Stadt chauffiert werden, sondern trainieren, je nach Wohnort, an der Säbener Straße oder auf dem neuen FC Bayern Campus. Der Nachteil: Der Schulbeauftragte Florian Cichlar muss sich im Norden organisatorisch immer wieder arrangieren: mit Schwimmern und den Talenten zehn weiterer Sportarten.

"Gießkannentraining bringt nichts", sagt Coach Janek Frensch, der auch als Chauffeur einspringt

Einer der Jungen, die Manfred Schwabl an diesem Vormittag in Unterhaching aus dem Augenwinkel beobachtet, ist der zehnjährige Rafael Bauer. Vor ein paar Minuten saß der kleine Verteidiger noch im Geografie-Unterricht, in eineinhalb Stunden steht eine Doppelstunde Kunst auf dem Stundenplan. Doch nun erwartet ihn erst einmal Coach Janek Frensch, der bei Bedarf auch als Chauffeur des silberfarbenen Kleinbusses einspringt. Heute lässt er nach dem Aufwärmen vor allem Passspiel trainieren. Er führt die erste Übung kurz vor, fordert "eine offene Hüfte wie bei Toni Kroos", und schon läuft es rund bei den Verteidigern und Mittelfeldspielern. Im Hintergrund trainieren separat die Torhüter, etwas abseits die Stürmer. "Ganz andere Übungen", sagt Frensch, "Gießkannentraining bringt nichts."

Dem überkommenen Prinzip der Gießkanne etwas entgegenzusetzen, war vermutlich der Hauptgrund, weshalb man Ende der neunziger Jahre das Modell der "Eliteschulen" kreierte. Alle Kinder besuchten bis dahin die gleichen Klassen mit dem gleichen Tagesablauf, im Sportunterricht machten alle die gleichen Übungen. Heute sieht das anders aus. Wenn Stefan Munz, der Koordinator des Theodolinden-Gymnasiums, interessierten Eltern das Modell der Eliteschulen präsentiert, bekommen diese Begriffe wie Intensivierungsstunden in Kernfächern (kleine Gruppen) zu lesen oder Spezieller Nachführunterricht (individuell und flexibel). Die Rede ist dann auch von optimierter Stundenplangestaltung speziell für den Leistungssport Fußball. Es klingt ein wenig wie der Ausblick in eine neue, bessere Ära des Schulwesens.

Pionier Sandro Wagner bezweifelt, dass er sich das "Hamsterrad" noch einmal antun würde, in das er als 14-Jähriger eingestiegen ist

Einer der Ersten, die in den Genuss dieser "optimierten Stundenplangestaltung" kamen, ist ausgerechnet der Trainer der Unterhachinger Viertliga-Profis, Sandro Wagner. Neben Spielern wie Mats Hummels steht sein Name beinahe sinnbildlich für den Erfolg des Modells. Und doch bezweifelt Wagner, dass er sich noch einmal auf das einlassen würde, was er damals als 14-Jähriger begann. In seinem Büro über Manfred Schwabls Terrassenbank spricht er von einem "unfassbaren Aufwand", einem "Hamsterrad", das er seinem eigenen Kind vermutlich "nicht zumuten" würde. Täglich von 6.30 Uhr bis 21.30 Uhr sei er außer Haus gewesen, und das alles für ein paar zusätzliche Trainingseinheiten.

Inzwischen, sagt Wagner, habe sich das System deutlich verbessert. So finde das Zusatztraining des Nachwuchses nicht mehr an den Schulen, sondern bei den Profivereinen oder, im Falle der übrigen, so genannten "Perspektivvereine", beim Verband mit deren professionellen Fußball-Lehrern statt. Außerdem sei es von drei auf zwei Einheiten pro Woche reduziert worden. Dadurch sei der "fußballerische Mehrwert" gestiegen.

Diese Einschätzung teilt man auch beim TSV 1860 München, wo seit 2007 Roy Matthes verantwortlich für das Projekt zeichnet. Etwa 80 seiner Jugendkicker besuchen eine der drei Schulen, die Verlagerung des Schwerpunkttrainings sei "die beste der Anpassungen" gewesen, die seit den Anfangsjahren vorgenommen wurden. Und doch rät Sandro Wagner: "Nur, wenn alles perfekt bis ins Detail getaktet ist, macht es für junge Fußballer Sinn."

Der Vereinschef liest sogar die Zeugnisse: "Ich kenne sie alle. Und ich kenne auch die Problemfälle."

Die perfekte Taktung umfasst nicht nur den Transport in speziellen Kleinbussen, sodass keine Trainingseinheit zu spät beginnt und keine Schulstunde verpasst wird. Es geht auch um eine ausgewogene Ernährung mit speziellen NLZ-Menüs, auf denen Currywurst und Pommes fehlen. Vor allem aber umfasst sie eine möglichst intensive Kommunikation zwischen Verband, Vereinen, Schulen und Eltern. Manfred Schwabl, der nichts dem Zufall überlässt, studiert sogar die Zeugnisse seiner Schützlinge, und wehe, dort stehen schlechte Bewertungen. "Vor allem die sozialen Noten interessieren mich", sagt Schwabl, und er fügt hinzu: "Ich kenne sie alle. Und ich kenne auch die Problemfälle."

Einer dieser Problemfälle zählt heute ebenfalls zu den Aushängeschildern des Projekts: der Dortmunder Karim Adeyemi. Von 2012 bis 2018 war er Jugendspieler in Unterhaching, und vor allem in den Anfangsjahren an der Realschule alles andere als pflegeleicht. "Einmal mussten wir ihm sechs Wochen Trainingsverbot erteilen", erzählt Manfred Schwabl, er steht bis heute zu der Maßnahme. Es sei sein Ziel, "Persönlichkeiten auszubilden, nicht nur Fußballer".

"Oft sei er "zu platt vom Training", "feiern, zocken, Kino" kämen sowieso nicht in Frage, sagt ein 17-Jähriger

Wie zum Beweis gesellt sich kurz Innenverteidiger Tim Hoops dazu, ein sehr freundlicher, eloquenter 17-Jähriger, der schon seit seinen Tagen im Kids Club bei der Spielvereinigung kickt. Er quält sich gerade Richtung Abitur, das berichtet nicht nur sein Schul-Koordinator Stefan Munz, sondern auch er selbst: Mathe macht Probleme, Geschichte, auch Sozialkunde. Oft sei er "zu platt vom Training", "feiern, zocken, Kino" kämen sowieso nicht in Frage. Und doch will er es durchziehen: "Das Abi ist das große Ziel", sagt Hoops. Das ganz große freilich heißt Profifußball. Schwabl rechnet nach dem Abitur fest mit ihm; Hoops' Berater, den er sich schon mit 15 engagiert hat, halte sogar die zweite Liga für realistisch.

Es ist ein stetes Pendeln zwischen Träumen und Wirklichkeit, zwischen einem Leben als künftiger Nationalspieler und einem Leben als normaler Schüler. Und da die Wahrscheinlichkeit, dass es etwas wird mit den Träumen und dem Nationalspieler, auch unter den derzeit 260 Münchner Eliteschülern äußerst gering ist, wird das Pendeln zuweilen zur Zerreißprobe. Schwabl versteht zum Beispiel nicht, dass manche Eltern trotz schlechter Noten um jeden Preis das Abitur forcierten, wo doch jeder wisse, wie befreiend ein Wechsel auf eine Realschule sein könne.

An den Schulen dagegen moniert man, dass manche Eltern den Fußball deutlich höher bewerteten als die schulischen Leistungen. Michael Urlbauer, Koordinator an der Walter-Klingenbeck-Realschule, erzählt, dass es Zeiten gab, in denen manche seiner Kollegen regelrecht Angst vor den Eliteklassen gehabt hätten, da sich dort so viele lernunwillige, "sozial auffällige Kinder" getummelt hätten. Inzwischen hätten sie das Problem pädagogisch im Griff - durch "präventives Eingreifen" und wachsende Erfahrung.

Es gebe "zu wenige Mädchen", das sagen fast alle an dem Projekt Beteiligten

Einer der Hauptgründe für die Probleme war und ist die Tatsache, dass sich vorwiegend Jungen für diese Art der dualen Ausbildung interessieren. In den Bilderrahmen an der Wall of Fame in der Taufkirchener Schulaula hängen unter anderem die Trikots von Kevin Volland (heute AS Monaco), Moritz Leitner (FC Zürich) und Florian Niederlechner (FC Augsburg) - lauter Jungs, aus denen nach der Laufbahn im Nachwuchsleistungszentrum erfolgreiche Kicker wurden. "Zu wenige Mädchen", das sagen fast alle an dem Projekt Beteiligten, auch wenn es in den vergangenen Jahren gelegentlich auch Spielerinnen auf diesem Weg in den Profifußball schafften, Carina Wenninger vom FC Bayern etwa oder Kristin Kögel von Bayer Leverkusen.

Rafael Bauers Trainingseinheit an diesem Vormittag endet mit einer Runde Tischtennis-Fußball im Vip-Haus der Spielvereinigung mit direktem Blick auf den Rasen im einstigen Bundesliga-Stadion. Die Jungs genießen es, in den Räumen an ihrer Technik zu feilen, in denen auch die Profis ihre Athletik-Einheiten abhalten. Rafael, den alle "Raffi" nennen, sagt, das Training sei "cool". Sie seien zwar etwas hinterher in der Schule, sein bester Freund in einer Normalklasse sei ein ganzes Stück weiter. Doch das wird schon, da ist Raffi sich sicher. Sein Lieblingsfach? "Geografie."

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