Die wichtigste von mehreren Hürden hat Andreas Wellinger überwunden. Am Neujahrstag in Garmisch-Partenkirchen, wo sich am Morgen ein blauer Himmel über dem Skistadion spannte, konnte der Ruhpoldinger seinen Vorsprung im Gesamtklassement verteidigen. Vor allem mit einem starken Sprung im zweiten Durchgang gelang es ihm, sich an der Spitze zu behaupten, vor Ryoyu Kobayashi, seinem ärgsten Verfolger aus Japan. Und auf der nächsten Station in Österreich, auf der engen Schanze des Bergisels in Innsbruck, haben eher die kräftigen Springer als die Fliegertypen einen Vorteil. Wellinger vereint sogar beide Fähigkeiten auf sich; der Umzug in die Alpenrepublik dürfte ihm also nicht zum Nachteil gereichen. Vor allem nach dieser Vorstellung am Neujahrstag.
Das deutsche Team von Bundestrainer Stefan Horngacher zeigte in Garmisch-Partenkirchen abermals eine ordentliche Leistung, war aber nicht mehr in halber Mannschaftsstärke unter den besten Zehn vertreten wie noch in Oberstdorf. Den Tagessieg sicherte sich der Slowene Anze Lanisek nach Sprüngen auf 136 und 137 Meter. Kobayashi und Wellinger komplettierten das Podium vor 21 000 Zuschauern, die laut Veranstalter ein Rekord für ein Neujahrsspringen sind. Verlierer des ersten Tages im Jahr 2024 ist der Topfavorit Stefan Kraft aus Österreich. Er büßte weitere 14,8 Punkte auf Wellinger ein.
Ein weiterer Hauptdarsteller: der tiefe Aufsprungbereich der Schanze
Dafür ist ein Zweikampf aus dem bisherigen Geschehen der Tournee erwachsen: Die japanischen Kollegen, die in Garmisch-Partenkirchen plötzlich im Pressezentrum aufgetaucht sind, haben richtig gepokert. Ihr Landsmann, Ryoyu Kobayashi, der die Tournee bereits zwei Mal gewonnen hat, einmal gar per Grand Slam, hat ebenfalls im Gesamtklassement deutlich aufgeholt. Im Ergebnis heißt das: Wellinger führt noch vor Kobayashi, allerdings denkbar knapp - mit 1,8 Punkten. Dennoch, sein Trainer war zufrieden: "Andi Wellinger ist heute super gesprungen und super gelandet, das war das Wichtigste. Er hat das super gelöst. Die Sprünge waren auf sehr hohem Niveau. Mit dem dritten Platz bin ich sehr zufrieden", sagte Stefan Horngacher.
Der erste Durchgang unterhalb des Gudibergs, des Partenkirchner Slalomhügels, hatte noch keine Vorentscheidung gebracht, war aber dennoch einigermaßen spektakulär. Denn die teils unebene Landezone sorgte für dauerhafte Spannung. Der junge Deutsche Philipp Raimund etwa hielt darauf mit einer Art Seiltanz gerade noch die Balance, um einen Sturz zu verhindern. Auch der deutlich erfahrenere Österreicher Michael Hayböck schlitterte wenig später offenbar in den tückischen Bereich - auch er, immerhin, ohne zu stürzen. Die beiden und eine Reihe weiterer Springer verloren indes ihre Chancen auf eine Platzierung im vorderen Drittel, denn die Abzüge für die Rutschpartien waren hoch. Für die lärmenden Zuschauer bot das neben dem gekonnten Skisprungsport an diesem Nachmittag gute Unterhaltung und Linderung des Silvesterkaters.
Der Tournee-Leader Andreas Wellinger wiederum hatte in Garmisch am Tag zuvor in der Qualifikation einen leichten Lapsus begangen, der ihm fast zu einem schweren Verhängnis geworden wäre. Bei der Landung geriet er in starke Rückenlage und kam mit dem Gesäß nahe in Richtung Schnee, ein Sturz hätte schon das Ende seiner Ambitionen auf den Gesamtsieg und das DSV-Märchen 2024 sein können. Andererseits war dieser Sprung auch ein Beweis seiner Stärke, denn er war weiter gesprungen als alle anderen, nur die Landetechnik hatte ihn um drei Punkte zurückgeworfen.
In Wellingers Anzug klaffte nach einem Sprung in Oberstdorf ein Riss
Alles in allem erfüllt Wellinger in diesen Tagen den überwiegenden Teil seiner Aufgaben tadellos. Bei der Qualifikation waren Hocke, Sprung und Flugphase in Ordnung. Und auch das Material stimmte - allerdings bis auf ein winziges Detail, das zwischenzeitlich die Materialprüfer beschäftigte. Denn in Wellingers Anzug klaffte nach dem Siegsprung ein kleiner Riss. Nur ein Loch auf Höhe des Schlüsselbeins war es, aber es gehörte da nicht hin.
Manche Kontrolleure hätten ihn disqualifiziert, die in diesem Fall zuständigen Prüfer aber sahen kein Problem und beanstandeten gar nichts. Endgültig abhaken konnte Wellinger aber die kurze Affäre erst, als klar war, dass der Riss erst später entstanden war, nämlich auf der Siegerbühne beim Jubeln. Wellinger dürfte dennoch einen Schrecken bekommen haben, er sagte: "Wir haben einen flexiblen Stoff mit einem Faden aus der Nähmaschine. Das reißt einfach irgendwann mal." Tournee-Etappensieger jubeln eben etwas über die Maßen, denn so oft gelingt so ein Erfolg nicht. Wellinger verspricht trotzdem Besserung, wie er in seinem abschließenden Kommentar sagte: "In dem Moment war's blöd. Da muss ich halt a bissl weniger jubeln."
Weder zum Jubeln noch zum Witzereißen ist es zurzeit seinem Teamkollegen Markus Eisenbichler zumute. Der Erfolgsspringer der vergangenen Jahre - sechsmaliger Weltmeister, Olympiadritter und vor fünf Jahren Zweiter bei der Tournee - findet nicht so schnell wie gewünscht aus seiner Sprungkrise heraus. Die letzte Möglichkeit, doch noch mit dem Tourneekader weiter nach Garmisch-Partenkirchen und vielleicht nach Österreich zu reisen und einen Umschwung zu erzwingen, hat er verpasst. Coach Horngacher fehlt momentan das Vertrauen, dass Eisenbichler diesen Schritt noch schafft. Den Platz in der nationalen Gruppe in Garmisch bekam ein Springer aus dem deutschen Nachwuchsteam.