Siegerehrungen sind normalerweise etwas fürs Protokoll, Hände schütteln, Medaillen umhängen, Blumen in Empfang nehmen, Nationalhymne, ein bisschen Winken. Doch diese Zeremonie am Dienstagabend in der Duna Aréna von Budapest wird wohl niemand so schnell vergessen. Es war der bisherige Gänsehautmoment der Schwimm-Weltmeisterschaften in Budapest, an einem Tag, an dem die Emotionen überhandnahmen.
Die Medaillenzeremonie wird dort immer von einem kleinen Orchester eröffnet, das hoch oben über dem Schwimmbecken auf der Seite sitzt, die der Donau zugewandt ist. Die Geigerin spielt dann sehr würdevoll ihre Melodie, mit der die Athleten empfangen werden. Dann kamen sie herein, Michailo Romantschuk, Florian Wellbrock und Robert "Bobby" Finke, in dieser Reihenfolge die Bronze-, Silber- und Goldmedaillengewinner über 800 Meter Freistil. Und als Romantschuk, der Ukrainer aus Riwne, auf dem Podest stand, Edelmetall um den Hals, die Medaille in der Hand, da schloss er die Augen und begann zu weinen.
Sein Trainer Petro Nahornyj verfolgte das alles von der Tribüne aus, was überhaupt nicht selbstverständlich war. Nahornyj kämpfte bis zuletzt als Soldat im Krieg, an der Front von Odessa. Die ukrainische Regierung hatte ihm die Ausreiseerlaubnis erteilt, bis zum Ende der Weltmeisterschaft darf Nahornyj den Tarnanzug ablegen und in einen Trainingsanzug schlüpfen. Dann muss er zurück an die Front.
Sein Vater ist in der Ukraine geblieben - er meldet sich einmal am Tag
Es bündelte sich also vieles an diesem Abend in Budapest, die Tränen, das Leid, der nicht enden wollende Krieg, die WM-Medaille im Becken. Später sprach Romantschuk, der lange Zeit das Rennen sogar angeführt hatte, eine Widmung aus: "Die Medaille ist für alle Ukrainer, für meine Familie, die Armee, für meinen Vater. Ja, er verteidigt mein Land, mein Zuhause. Einmal am Tag schreibt er mir, ob alles gut ist."
Man kann da lediglich erahnen, wie groß die Angst des Sohnes vor schlechten Nachrichten aus der Heimat ist. Und wie groß die Wut auf die Angreifer. "Ich weiß, dass mehr als zehn Sportler während des Krieges gestorben sind. Wenn Leute sagen, Sport ist nicht Politik, ist das nicht richtig. Sport ist die größte Politik", sagte Romantschuk bereits nach dem Vorlauf über 800 Meter am Montag.
Auch nach dem 800-Meter-Finale ging es nicht um die Taktik des spannenden Rennens und nur am Rande um die Bronzemedaille. Wie auch, die Fragen, die Romantschuk gerade in Budapest gestellt werden, drehen sich zu 95 Prozent um den Krieg. Und er beantwortet sie, weil er sich auch als eine Art Sport-Botschafter seines Landes sieht. Und weil er nicht begreifen kann, wie einstige Weggefährten, wie der Rücken-Olympiasieger Jewgeni Rylow öffentlichkeitswirksam Wladimir Putin unterstützen. Innerlich sei er bereit gewesen, Rylow "zu töten", sagte Romantschuk. "Davor war er ein guter Freund. Alles hat sich verändert."
Die Geschichte hat indes noch eine zweite Ebene, und diese handelt von Freundschaft, auch wenn es kitschig klingen mag. Denn Romantschuk kann natürlich längst nicht mehr in der Ukraine trainieren, sein Trainingspool in der Heimat: zerbombt. Dann meldete sich Ende Februar, als das Grauen begann, sein größter Rivale per Instagram. Und Romantschuk folgte Florian Wellbrocks Vorschlag, nach Magdeburg zu kommen und in Wellbrocks Pool zu trainieren, in der Gruppe von Bundestrainer Bernd Berkhahn. Ein deutscher Weltmeister und Olympiasieger, zusammen mit einem ukrainischen Olympia- und WM-Zweiten.
Seither schwimmen sie dort Stunde für Stunde, Tag für Tag Seite an Seite, geben sich Tipps, lernen vom anderen, was eigentlich unglaublich ist im Spitzensport mit seinem unbändigen Konkurrenzdenken. Zumal im Schwimmen, wo Nuancen entscheiden und jede und jeder die anderen beäugt, was man denn übernehmen kann beim Start, bei der Wende, bei der Atmung. Und das Frappierende ist, so sagt es Berkhahn: "Je länger das Ganze dauert, je mehr sie zusammen erleben, desto besser wird das Verhältnis. Es ist schon sehr eng und familiär und auf einer emotionalen Basis gewachsen. Das ist einmalig." Als Wellbrock Romantschuk in Budapest neben sich weinen sah auf dem Podest, wäre er laut dem Bundestrainer "am liebsten rübergerannt, um ihn zu umarmen".
Wellbrock und die anderen haben Romantschuk in Magdeburg ein Appartement besorgt, sie helfen ihm bei organisatorischen Dingen, und er ist nun in gewisser Art und Weise auch Teil der DSV-Delegation in Budapest: Berkhahn spricht oft mit ihm, bereitet ihn taktisch auf die Rennen vor - auch auf die 800 Meter am Dienstagabend. Romantschuk weiß, was da für ihn geleistet wird, auf allen Ebenen. Er bedankt sich in fast jedem Interview für die Hilfe und Unterstützung, die er in der Trainingsgruppe von Wellbrock in Magdeburg bekommt. "Ohne sie wäre ich nicht hier. Und die ukrainischen Flaggen hängen dort überall in den Straßen der Stadt", sagt Romantschuk, "das ist sehr schön."
In den kommenden Tagen soll ein Teil von Romantschuks Familie in Budapest eintreffen, er hat sie seit vier Monaten nicht gesehen. Und alle Welt schaut schon auf das 1500-Meter-Finale am Samstag, dem letzten Wettkampftag der Beckenschwimmer bei dieser WM. Wellbrock und Romantschuk werden dann wieder Seite an Seite schwimmen - und im Pool wieder ihr eigenes politisches Zeichen setzen gegen den Krieg.