Eiskunstlaufen bei Olympia:Schweben mit Eisen an den Füßen

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Eine vierminütige, fesselnde Darbietung, akkurat bis in die Nuancen, bringt Nathan Chen den Olympiasieg. (Foto: Mark Edward Harris/Zuma Wire/Imago)

Nathan Chen überwindet die Schwerkraft und wird mit einem technisch hochanspruchsvollen Programm Olympiasieger. Sein Rivale Yuzuru Hanyu führt eine Weltneuheit vor, den Vierfach-Axel - und scheitert.

Von Barbara Klimke, Peking

Harmonie, Perfektion und sogar eine Weltneuheit auf Kufen: Mehr kann olympischer Eiskunstlauf kaum bieten als diese Männerkür im Pekinger Stadtteil Haidian. Und dennoch war zu spüren, dass etwas Entscheidendes fehlte in der engen, in Blau gehaltenen Halle. Kein Plüschtier flog aufs Eis. Keine Rose. Nicht einmal ein Chrysanthemen-Blatt. Der Applaus brauste auf, verebbte wieder. Und als die Medaillengewinner, Nathan Chan aus den USA und die beiden Japaner Yuma Kagiyama und Shoma Uno, eine halbe Ehrenrunde drehten in dieser seltsamen Aquarium-Atmosphäre, spielte die Stadionregie eine Melodie ein, die allenfalls als Musik für Zierfische taugen würde.

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Mit der Dudelei bei der sogenannten "Flower Ceremony", die die Siegerehrung in der Halle ersetzen soll, endete ein mehrstündiger Wettkampf, der in jeder Minute um ein Vielfaches hochklassiger war als das Rahmenprogramm, das die Spiele-Organisatoren abspulten. Am Ende stellten sich dann Kagiyama, 18, und Uno, 24, etwas schüchtern mit der japanischen Flagge vor den Fotografen auf, und auch Nathan Chen, 22, griff zum Sternenbanner.

Eine vierminütige, fesselnde Darbietung - zur Musik von Elton Johns "Rocket Man"

Es war eine schon beinahe triumphale Geste für den kühlen, klugen, kontrollierten Überflieger aus Salt Lake City, der abseits der Eisfläche sehr sparsam mit der Zurschaustellung von Regungen umgeht. Wie ein großer intellektueller Schauspieler entfaltet er erst auf der Bühne, wenn die Scheinwerfer auf ihn gerichtet sind, seine wirkmächtige Präsenz.

Die Regieanweisung, an die er sich am Donnerstag in der Capitol Indoor Arena hielt, lautete, aufs Nötigste reduziert: "Ich muss sicherstellen, dass diesmal alles funktioniert." Daraus schuf er eine vierminütige, fesselnde Darbietung, akkurat bis in die Nuancen und rhythmisiert mit fünf Vierfachsprüngen - davon vier verschiedene: Flip, Salchow, Lutz und Toeloop -, die er ins Programm komponierte. Zum Takt der Musik von Elton Johns "Rocket Man".

Der Raketenmann, der mit Eisen unter den Füßen die Schwerkraft überwand, war an diesem Tag nicht zu schlagen. Weder vom jungen Yuma Kagiyama aus Yokohama, dem WM-Zweiten des vergangenen Jahres, noch von Shoma Uno aus Nagoya, dem Olympia-Zweiten 2018, mit ihren jeweils hochanspruchsvollen Vorführungen. Nathan Chen war der Konkurrenz bereits nach der Kurzkür entschwebt. Und auch Yuzuru Hanyu, 27, der Olympiasieger von 2014 und 2018 aus Sendai, holte ihn nicht mehr ein. Obwohl er ebenfalls in neue Sphären aufbrach.

Luftgeist am Boden: Der Japaner Yuzuru Hanyu versucht sich an einer olympischen Neuheit: dem Vierfach-Axel. (Foto: Ma Ning/imago images/Xinhua)

Hanyu hat sich im Vergleich zum coolen Überflieger Chen den Ruf als Artist auf Schlittschuhen erworben. Stilistisch wäre er eher der Kategorie Luftgeist Ariel zuzuordnen als dem Rocket Man. Sprunggewaltig ist er aber ebenso. In den vergangenen Jahren haben sich die beiden ungleichen Wettkämpfer gegenseitig in immer neue Höhen getrieben. Hanyu war zwar nicht der erste Mensch, der vierfach um die eigene Achse spindelte - das Urheberrecht wird dem Kanadier Kurt Browning zugeschrieben, der bereits 1988 der staunenden Öffentlichkeit bei Weltmeisterschaften einen Vierfach-Toeloop vorführte. Aber der Japaner entwickelte 2016 eines der jüngeren Vierfach-Modelle, den Rittberger; gemeinsam mit dem Amerikaner Chen hat er diesen, wie die anderen Sprünge, dann auf dem Eis zur Serienproduktion gebracht.

Am Donnerstag hat Hanyu als Erster bei Olympia eine Neuheit ausprobiert: den Vierfach-Axel. Zwar endete der Versuch zur Musik "Ten to chi to" aus dem Film "Heaven and Earth" mit einem Sturz. Aber fest steht, dass noch niemand diese schwerste aller Solo-Kapriolen, bei der sogar viereinhalb Rotationen notwendig sind, je sicher gelandet ist. Sie wird nun mit einem Sternchen, als unvollendet, in der Stilbibel des Sports verbucht. Es war gewissermaßen die letzte Rakete, die Hanyu, nur Achter nach dem Kurzprogramm, noch zünden konnte. Der Luftgeist ist abschließend Vierter der Winterspiele von Peking geworden; und es spricht für seinen alten Rivalen Chen, dass er es eine Ehre nannte, mit diesem "vielleicht Größten unseres Sports" den Wettbewerb zu teilen.

Chen studiert auch Statistik und Datenwissenschaften in Yale - wie schafft er das?

Tatsächlich aber hat Nathan Chen auch schon die zurückliegenden drei Weltmeisterschaften in Serie für sich erobert. Dass er es schafft, die Balance zwischen einem Vollzeitstudium der Statistik und Datenwissenschaften an der Elite-Universität Yale und dem Sport zu halten, hat nicht nur seine Kommilitonen verblüfft. In den ersten beiden Jahren, so stellte die Hochschulzeitung Yale News fest, habe er nicht ein einziges internationales Championat, zu dem er reiste, verloren. Vor Peking 2022 nahm Chen nun Freisemester, um sich vorzubereiten; aber im Herbst, so versprach er der Uni, ist er zurück in der Bibliothek in Connecticut.

Chen, der aus einer Akademikerfamilie stammt, stand schon mit drei Jahren auf dem Eis. Seine Eltern stammen aus Peking, er hat vier Geschwister, und das Geld, so sagte er nun bei den Winterspielen, wo er auch auf chinesische Fragen ausschließlich auf Englisch antwortete, war knapp. Als Zehnjähriger galt er als klavierspielendes und eislaufendes Wunderkind, der Sender ABC widmete ihm damals eine Dokumentation.

Seitdem vervollkommnete er an der Ballettstange und in der Halle seine Sprung- und Schritttechnik. Dass er vor vier Jahren, schon damals ein Olympia-Favorit, im Kurzprogramm in Pyeongchang dreimal stürzte und sich vor dem Finale auf Rang 17 wiederfand, hat ihn zu einem noch gewissenhafteren Arbeiter werden lassen. In Südkorea lief er abschließend die beste Kür - die erhoffte Goldmedaille aber verfehlte er.

Nun, vier Jahre später, hat er sein Ziel erreicht: mit Klugheit, Kalkül, Konstanz und absoluter Kontrolle über seine Flugkurven. Mehr Zuschauer hätte der Raketenmann verdient gehabt, mehr Stimmung, mehr Glanz in der blauen Halle. Und auf dem Eis, wie sonst bei Olympia üblich, einen Berg von Rosen.

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