Jugend im Profifußball:Der Trend geht zum 16-Jährigen

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Iker Bravo, hier im Spiel gegen Hertha BSC. (Foto: Uwe Koch/Eibner-Pressefoto/imago images/Eibner)

Leverkusen setzt in der Liga mit Iker Bravo und Zidan Sertdemir gleich zwei Teenager ein. Die Häufung belegt eine Entwicklung, die sich während der Pandemie auch statistisch nachweisen lässt: Klubs bauen notgedrungen auf den Nachwuchs.

Von Javier Cáceres, Berlin

Dafür, dass alles schon mal dagewesen ist, waren zwei Personen auf dem Podium des Presseraums von Hertha BSC der beste und lebende Beleg: Leverkusens Trainer Gerardo Seoane, 43, war keine 17 Jahre alt, als er in der Schweiz für die Erstligamannschaft des FC Luzern auflief. Und Pal Dardai, Trainer bei Hertha BSC, durfte kurz nach seinem 16. Geburtstag "vor zehn-, zwölftausend Zuschauern" daheim in Ungarn für den Pécsi MFC bei den Großen mitspielen.

Gleichwohl: Aus dem Rahmen fiel doch, was sich am Sonntag beim 1:1 zwischen Hertha und Leverkusen im Berliner Olympiastadion zutrug. Als die Leverkusener in der 90. Minute durch Robert Andrich ausglichen, standen zwei Fußballer auf dem Platz, die kaum älter waren als die Balljungen auf der blauen Tartanbahn: Iker Bravo und Zidan Sertdemir. Bravo war am Sonntag 16 Jahre, neun Monate und 25 Tage alt, der Däne Sertdemir ist 22 Tage jünger als sein spanischer Altersgenosse.

Ist Seoane dem Jugendwahn verfallen? Mitnichten. "Es war vor der Saison nicht unser Plan, dass diese zwei Spieler schon zum Einsatz kommen. Aber wir hatten keine anderen Möglichkeiten", sagte der Schweizer - zumal sein Team noch vom Europa-League-Einsatz am Donnerstag ausgelaugt war. Die Verletzungsmalaise schlug bei Leverkusen so brutal zu, dass am Ende auf der Leverkusener Bank nur noch der Ersatztorwart und ein Verteidiger saßen.

Zu den Blessierten wiederum gehörte auch Florian Wirtz, der im vergangen Jahr im Alter von 17 Jahren und 15 Tagen debütiert hatte. Kuriosität am Rande: Der jüngste Bundesligaspieler überhaupt kam ebenfalls in Berlin zu seinem Debüt. Youssofa Moukoko war am 21. November 2020 genau 16 Jahre und einen Tag alt, als er für Borussia Dortmund in Berlin erstmals zum Einsatz kam. Er war damit ein vergleichsweise rüstiger Profi: Der Italiener Pietro Pellegri war 15 Jahre und 280 Tage alt, als er für den FC Genua sein erstes Spiel in der Serie A feierte. Aber eben doch auch ein Indiz dafür, dass zunehmend Fußballer aus dem Fruchtwasser in die Bundesliga hüpfen.

Immer mehr Spiele, immer weniger Pausen, die Pandemie: Die Trainer machen fleißig Gebrauch von den fünf erlaubten Wechseln

Einer demographischen Studie des Zentrums für Internationale Sportstudien (CIES) zufolge ist die Bundesliga zurzeit die zweitjüngste der Top-5-Ligen Europas. Das Durchschnittsalter der Spieler, die in der laufenden Saison zum Einsatz gekommen sind, lag bislang bei 26,5 Jahren und damit nur knapp über dem Wert für Frankreich (26,3) und hinter Spanien (27,9), Italien und England (jeweils 27,2). Ganz grundsätzlich gelte, dass seit Beginn der Pandemie "der Anteil sehr junger Spieler in den Kadern" gestiegen sei, schreibt das CIES unter Verweis auf Daten aus 26 europäischen Ligen. Zwischen 2009 und 2019 hätten Fußballer unter 19 Jahren im Durchschnitt 3,2 Prozent aller Kadermitglieder ausgemacht, die zum Einsatz kamen - im Jahr 2020 sei der Anteil auf vier Prozent angewachsen. Auch der Anteil der Debütanten sei auf 5,4 Prozent gestiegen - ein Rekordwert.

Auf die Jungen ist einerseits Verlass: Die Ausbildung ist immer besser und professioneller, für immer mehr Jugendliche ist Fußball kein Spiel mehr, sondern ihr Beruf. Er selbst sei "ein Kind" gewesen, als er debütiert habe, erinnerte sich Dardai am Sonntag, "ich wollte nur spielen". Er sei auch "noch nie von einem jungen Spieler enttäuscht worden", sie spielten ohne Druck und Angst auf. Wenn der Kollege Seoane aber die Spieler eingesetzt habe, hätten die das "bestimmt verdient", räsonierte Dardai.

Was Seoane gern bestätigte. Andererseits hat er die milchbärtigen Bubis eben auch gebraucht. Womit er exemplarisch für Notwendigkeiten steht, die wesentlich der Pandemie geschuldet sind. Es gibt immer mehr Spiele, weniger Pausen zwischen den einzelnen Partien, dadurch in Summe eine höhere Verletzungsanfälligkeit - und seit Beginn der Ära Corona die Möglichkeit, fünf Mal auszuwechseln. Die Pandemie hat viele Klubs zum Sparen gezwungen, das Transfervolumen ist insgesamt gesunken. Aber wenn es zu Transaktionen kommt, sind sie teuer wie eh und je.

In der Bundesliga habe das im Pandemiejahr 2020 dazu geführt, dass das Durchschnittsalter der Spieler sank - so wie in 17 weiteren von insgesamt 26 Ligen, die vom CIES unter die Lupe genommen wurden. Die "jüngste Liga" Europas sei die slowakische Super Liga, deren Spieler seien im Schnitt gleich fünf Jahre jünger als die Akteure der "ältesten", der türkischen Süper Lig. Was exemplarisch für die Warenströme der Fußballindustrie steht: Die Slowakei ist tendenziell ein Exporteur von Fußballerbeinen, die Türkei ein vergleichsweise finanzstarker Importeur.

Durch dieses Prisma betrachtet überrascht kaum, dass Frankreich die jüngste der Topligen ist. Während der Pandemie war der dortige Ligafußball monatelang komplett stillgelegt, was den Verkaufszwang der Klubs und den Abwanderungswillen der Profis verstärkte - und also Planstellen freimachte, die von jungen Spielern besetzt wurden. Die Lage in Frankreich erinnert an die Zeit in Spanien nach der Immobilienkrise 2008, die Klubs verkauften Spieler, um sich wirtschaftlich über Wasser zu halten. Und potenzierten die Chancen für den eigenen Nachwuchs. Boten jungen Männern die Chance aufs Debüt: Wie das verletzungsgeplagte Leverkusen nun im Fall von Sertdemir und Bravo.

Dass damit der Weg vorgezeichnet wäre, ist nicht gesagt. Zu Bravo füllen sie in Spanien ganze Seiten, er kommt aus der Nachwuchsschule des FC Barcelona. "Um ganz nach oben zu kommen, braucht es viele Stunden Arbeit", sagte Seoane, "dies sollte nur ein erster Schritt sein, und Motivation, um weiterzumachen." Selbst im Fall von Widrigkeiten. Siehe Robert Andrich, der den tollen Berliner Führungstreffer von Stevan Jovetic in der 90. Minute noch ausglich. Andrich wurde bei Hertha ausgebildet - und fand sein Glück zunächst beim Ortsrivalen Union, und nun bei Leverkusen.

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