Das Band war weg. Man konnte es sich locker in die Szenerie zurückdenken an jenem 9. Oktober 2016 im Münchner Olympiastadion: Bei ihren letzten Schritten durchs Ziel breitete Coco Wieland die Arme aus, sie streckte den Oberkörper nach vorne, fast als hinge er noch dort, dieser fliederfarbene Plastikstreifen über der Ziellinie, der dem Sieger vorbehalten ist. Das Gesicht der Ismaningerin war keineswegs von den Strapazen der vorausgegangenen 42,195 Kilometer gezeichnet. Es strahlte pures Glück aus. Ganz anders als jetzt, fast eineinhalb Jahre später. "Ich bin um mein Band betrogen worden", stellt die 48-Jährige ernüchtert fest.
Coco Wieland, die eigentlich Cornelia heißt, überlegt kurz, ehe sie das sagt. Es war ja eine knifflige Frage: Was denn überwiege, wenn sie heute an den München Marathon 2016 denke: Freude oder Bitterkeit? Als Dritte war sie angekommen, so euphorisch, dass sie den Moderator der Siegerehrung fast umriss, als sie ihn umarmte. Inzwischen sind jene zwei, die damals vor ihr im Ziel waren, aus den Ergebnislisten eliminiert worden. Sie waren gedopt.
20 000 Läufer waren damals im Olympiapark gestartet, 5000 über die Marathondistanz, 992 Frauen kamen ins Ziel - und Coco Wieland hat gewonnen. Doch ihre Freude ist getrübt. Niemand könne ihr dieses einmalige Erlebnis zurückgeben: vor all den Menschen im Olympiastadion in das Siegerband hineinzulaufen; mit den Freunden und Bekannten unter den Zuschauern zu feiern; den Pokal für Platz eins in die Luft zu heben. "Hinterher kriegt das doch keiner mehr mit." Es ist nicht viel anders als bei all den Olympia-Medaillen, die irgendwann wegen positiver Dopingtests neu vergeben werden, ohne dass die Öffentlichkeit Notiz davon nimmt; ohne dass die Geschlagenen von damals noch irgendetwas davon hätten außer der Gewissheit, dass sie betrogen worden sind.
Coco Wieland hat das alles erst durch Zufall erfahren. Die Geschichte ist so unglaublich, dass sie sie doch gerne mal erzählen will, auch wenn das Kapitel für sie abgeschlossen ist. Sie hat sich ein kleines vietnamesisches Restaurant im Münchner Osten für das Treffen ausgesucht, trägt eine rote Bluse, blickt selbstbewusst und fröhlich. Und erzählt von Duisburg, einem Marathon im Juni 2017, wo sie nachholte, was sie in München verpasst hatte: "Ich wollte einmal durch dieses verdammte Band rennen", erzählte sie den Reportern dort. Die Zeit? Egal. Nach 3:08:03 Stunden war sie Erste. In München hatte sie nur 2:57:16 gebraucht, unter drei Stunden, wie sie es sich vorgenommen hatte. "Dort waren es acht Grad, hier 28", erklärte sie in Duisburg.
"Ich bin hellhörig geworden"
Später las sie dann die Berichte über sich. Die Journalisten hatten recherchiert, über die unbekannte Siegerin aus Bayern und den München Marathon. Irgendwo stolperte Wieland dann über eine Textstelle, der zufolge die damalige Siegerin Latifa Schuster mit Dopingvorwürfen belastet sei. Davon hatte Wieland bis dahin nichts mitbekommen. "Ich bin hellhörig geworden", erzählt sie, "und habe mich beim Veranstalter des München Marathons gemeldet." Es sei dann einige Wochen lang nichts geschehen, obgleich Latifa Schuster, 36, Elsässerin mit marokkanischen Wurzeln, bereits am 16. März 2017 bei einer Gerichtsverhandlung in Frankreich die Einnahme von Kokain (im privaten Bereich) gestanden hatte, für vier Jahre gesperrt worden war und all ihre Ergebnisse seit München annulliert worden waren.
"Mein erster Reflex war, die Zweite von damals anzurufen, um ihr zu erzählen, dass sie jetzt Erste ist", erinnert sich Wieland. "Gott sei Dank habe ich das nicht gemacht." Denn im Spätsommer habe sie dann eine E-Mail von Gernot Weigl erhalten, dem Organisator des München Marathons. "Ich solle mich melden, ich hätte wohl gewonnen." Auch die zweitplatzierte Anne Lupke aus Hamburg war für vier Jahre gesperrt worden, das ist seit Juni 2017 in Kraft. Bei der 37-Jährigen war die leistungssteigernde Substanz Methylhexanamin gefunden worden, die oft illegal Nahrungsergänzungsmitteln zugesetzt wird und auch durch den Fall Evi Sachenbacher-Stehle bekannt ist.
Bis Kilometer 40 hatte Wieland geführt, hatte das Tempo gemacht, dann war sie überholt worden. Die ersten beiden kamen eine Minute vor ihr ins Ziel - und wurden dort ähnlich begrüßt wie sie: "Da stand eine Frau neben mir, die sagte, sie weicht mir jetzt nicht mehr von der Seite." Eine Dopingkontrolle also, die erste in Wielands Leben, nicht gerade zu erwarten bei einem Rennen wie diesem. Die Proben brachten später die beiden positiven Befunde. "Ich hatte vorher nur literweise Rote Bete getrunken", erzählt Wieland kopfschüttelnd.
Coco Wieland vertritt eine klare Meinung zum Thema Doping: "Doper gehören für immer gesperrt", findet sie. Sie weiß nichts über die beiden anderen, hat keinen Kontakt zu ihnen, kennt ihre Sicht der Dinge nicht. Aber sie rätselt. Der München Marathon ist ein Wettbewerb von überschaubarem sportlichen Wert, eine Massenveranstaltung für Hobbyläufer. "Die Teilnahme kostet richtig Geld", erzählt Wieland, für Nachmelder mehr als 100 Euro. Zu gewinnen gebe es nichts außer einem Pokal und einem riesigen Laib Brot. "Es geht da doch um nichts", betont sie. Anders als bei manchen Volksläufen, wo Agenten ihre Sportler zum Preisgeldsammeln hinschicken. Und noch etwas findet sie seltsam: Dass alles so lange gedauert habe. Bis heute ist der Homepage des München Marathons nichts über die Dopingfälle zu entnehmen, nur die Ergebnisse wurden geändert. Keine Presseerklärung. Wer im Newsarchiv nach unten scrollt, entdeckt den Bericht über die jubelnde Latifa Schuster.