Im schwarzen Trainingsanzug kam Angelique Kerber in der Arena den Gang entlang, die Haare im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden. Der Blick zu blinkenden Anzeigetafeln erübrigte sich in diesem Moment. Auch im Tennis ist das Resultat eines Werktags nicht selten direkt vom Gesicht abzulesen, und dieser Abend in Stuttgart bildete keine Ausnahme. Es war weit nach 23 Uhr, Angelique Kerber wirkte müde, und sie hat einen Berg Arbeit vor sich. Die Sandplatzsaison hat begonnen.
Ein Vierteljahr ist vergangen, seit sie als Mutter einer inzwischen einjährigen Tochter in ihren Beruf als Tennisprofi auf die WTA-Tour zurückkehrte. Nach dieser Spanne ist Angelique Kerber, 36, beim Porsche Tennis-Grand-Prix in Stuttgart gern bereit gewesen, ihr Zwischenfazit darzulegen: "Und ich muss sagen", erklärte sie, "mich hat nichts so wirklich überrascht."
Sie wusste, was auf sie zukommt: von der Erweiterung des Betreuerteams bis zur Umstrukturierung des Tagesablaufs und der Bereitschaft zu mehr Spontaneität in allen Lebenslagen. Dass es "Zeit und Geduld erfordern" würde, um an das athletische und technische Niveau anzuknüpfen, das eine perfektionistisch veranlagte dreimalige Grand-Slam-Siegerin von sich erwartet, ahnte sie ebenfalls. Diese Beharrlichkeit ist vor allem jetzt vonnöten, Ende April, wenn beim Jahreszeitenwechsel der Tennissport in Europa seine Transformation vom Hallen- zum Freiluftsport erlebt, die Umstellung vom Hartplatz auf Ziegelmehl, auf weniger festen Grund, "auf Sand, wo mir der Belag eh nicht liegt", wie Kerber, 36, anmerkte. Und wo es ihr, wie sie ergänzte, derzeit an Übung, an Matchpraxis fehlt, wie es im Tennisjargon heißt.
Tennis:Karriere auf der Kippe
Der frühere US-Open-Sieger Dominic Thiem versucht es mit der nächsten Maßnahme zur Krisenbewältigung: Er will sich nicht mehr mit früher vergleichen. Endlos gibt sich der 30-Jährige aber nicht Zeit, um sportlich die Wende zu schaffen.
Zu beobachten war dies bei ihrer 2:6, 1:6-Niederlage am Mittwochabend in Stuttgart gegen Emma Raducanu, wobei das Ergebnis tatsächlich wenig aussagte über Kerbers Schlagkunst im Vergleich zu der 15 Jahre jüngere Kontrahentin aus London. Kerber, Siegerin dieses Turniers 2015 und 2016, spielte phasenweise dominant, aggressiv, zauberte harte Passierschläge, dann wiederum weiche Stoppbälle aus dem Handgelenk und preschte mitunter, untypisch für ihren oft eher defensiven Stil, ans Netz. "Hat leider nicht gereicht", lautete ihr lakonischer Kommentar. Denn dies war ihr erstes Duell auf dem roten Geläuf seit zwei Jahren, seit den French Open 2022 vor ihrer Schwangerschaft. "Teilweise habe ich auch gut gespielt, aber dieses Sandplatzgefühl hat dann halt zwischendrin gefehlt", sagte sie: das Gefühl etwa für den hohen Absprung der Bälle, für das Rutschen auf körnigem Untergrund.
Das feine, bestens organisierte Stuttgarter Turnier ist für Weltklassespielerinnen stets der bevorzugte erste Testlauf, wenn es im Frühling - noch unterm Hallendach - heißt: alles auf Rot. Raducanu jedoch hatte sich beispielsweise schon Übung erworben im Billie-Jean-King-Cup, einem Nationenwettbewerb, als sie an der französischen Küste am vergangenen Wochenende die beiden besten Spielerinnen der Équipe Tricolore bezwang. Kerber hatte Ähnliches geplant mit der deutschen Tennismannschaft in Brasilien, aber sie zog sich einen Infekt zu, reiste später an und konnte kaum mit dem Team trainieren. "Es wäre jetzt gelogen, wenn ich sage, dass ich topfit bin oder topfit war", räumte sie in Stuttgart ein: "Ich bin immer noch angeschlagen." Die körperliche Verfassung samt Jetlag nach den langen Flügen sei auch ein Grund für ihre Offensivstrategie gegen Raducanu gewesen: "Lange Rallys links und rechts - ich glaube, das hätte ich nicht komplett geschafft."
Und so bleibt es nach Angelique Kerbers erstem Match vor deutschem Publikum seit der Tour-Rückkehr im Januar bei ihrem Zwischenfazit: Die ehemalige Wimbledonsiegerin fühlt sich immer noch in der Phase, in der sie sich "rantasten" muss an die konstante Form, die im Weltklassetennis vonnöten ist. "Aber auf der anderen Seite habe ich auch gesehen, dass ich gegen Top-Ten-Spielerinnen gewinnen kann." In Indian Wells stand sie im März nach drei gewonnenen Matches im Achtelfinale, daneben stehen vier Erstrundenniederlagen zu Buche. Auch das hatte sie bei Auswertung ihrer Trainingsleistungen erwartet - denn ein Turniermatch unter Anspannung vor vollen Rängen ist eben immer auch der "Stresstest", wie es Emma Raducanu anschaulich formuliert hatte.
Angelique Kerber wird nun ein paar Tage Erholung einschieben. Sie hat, wie bei jungen Müttern üblich, umdisponiert: Dem Turnier in Madrid zieht sie das Training vor, auf dem Programm steht "Sandplatzvorbereitung", wie sie sagt. Sie plant noch Auftritte in Rom und bei den French Open in Paris, ehe es dann in die Rasensaison übergeht. Aber bis dahin: alles auf Rot!