Kanadas WM-Torwart:Den Schmähungen folgt ein Blackout-Auftritt

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Schwarzer Tag: Kanadas Torhüter Milan Borjan war am 2:1-Sieg von Marokko maßgeblich beteiligt. (Foto: Mike Egerton/dpa)

Noch ein politisch aufgeheizter WM-Fall : Kanadas Torwart Milan Borjan, geboren in einer Konfliktregion auf dem Balkan, wird von kroatischen Fans beleidigt. Danach patzt er im letzten Gruppenspiel - zu Gunsten von Kroatiens Konkurrent Marokko.

Von Thomas Kistner

Niemand weiß, was im Kopf von Milan Borjan vorging. Nach vier Minuten schob Kanadas Torwart, wie unter Drogen, den Ball butterweich und passgenau vor die Füße von Hakim Ziyech, Marokkos Stürmer brauchte das Spielgerät nur noch ins leere Gehäuse zu bugsieren.

Die frühe 1:0-Führung färbte am Tag der Entscheidung in der WM-Gruppe F sofort auf das Parallel-Spiel Kroatiens gegen Belgien (0:0) ab. Und das noch mehr, als Marokko 19 Minuten später nachlegte. Erneut agierte Borjan, 35, eher amateurhaft, als En-Nesryi den Ball zum 2:0 im kurzen Toreck ablegte. "Den kann man halten", befand nicht nur der deutsche Magenta-TV-Experte Michael Ballack.

Niemand weiß, welcher Film an diesem Tag in Milan Borjans Kopf ablief. In der Schlussphase, als sein Team den Gegner beim Stand von 1:2 in die Defensive drückte, startete er noch einen Ausflug in Marokkos Hälfte - und provozierte fast ein Kontertor.

Eines aber weiß man sicher: Welcher Film in den Tagen zuvor in Borjans Kopf ablief. Denn seit langem beherrschte er die Debatten in Kroatien: Milan Borjan, geboren 1987, wuchs auf in der während des Kroatienkrieges (1991-1995) serbisch besetzten Republik Krajina. Gegen Ende des Konflikts floh er mit seiner Familie vor dem vorrückenden kroatischen Militär nach Kanada - vertritt er nicht großserbische Ansichten gegenüber Kroatien?

Die Sache passt zu einem WM-Turnier, das immer mehr Merkwürdigkeiten aufweist

So wird das jedenfalls dort gesehen. Man ist einander ja ziemlich nahe: Borjan spielt für Roter Stern Belgrad, Serbiens Fußballstolz, der berüchtigt ist für seinen Chauvinismus. Deshalb beginnt dieser Fall schon im zweiten Gruppenspiel: Da hatte Borjan bei Kanadas 1:4-Niederlage gegen Kroatien nicht nur schmerzhafte vier Gegentore kassiert -er war während der Partie von kroatischen Fans lautstark und mit Plakaten beleidigt worden. Und auch seine Frau wurde Ziel von Schmähungen. Seit Dienstag liegt der Vorgang bei der Disziplinarkammer des Weltverbands Fifa.

Nach dem Match sagte er, seine Telefonnummer sei geleakt worden, er habe tausende Hass-Mails erhalten. "Beleidigungen und Drohungen", klagte Borjan. "Ich habe viele kroatische Freunde, ich habe nie darauf geachtet, wer woher kommt. Aber ich werde immer stolz auf meinen Geburtsort sein." Er sei in der "Republika Srpska Krajina" geboren, sagte er serbischen Medien - während seine Oma, eine Kroatin, den heimischen Medien erzählte, dass Borjan auch kroatische Wurzeln habe.

Die Anfeindungen im Kroatien-Match bestimmten die Schlagzeilen in Kroatien und Serbien, der Eklat zog sich über die Tage bis zum letzten Gruppenspiel. Die Medien forderten die Fifa zum Durchgreifen auf und argumentierten, das deutsche Team sei für die Petitesse, zu einer Pressekonferenz keinen Spieler zu schicken, mit 10 000 Euro Strafe belegt worden.

In dieser politisch aufgeheizten Stimmung also war ein Blackout zu bestaunen, der in die Fifa-Annalen eingeht. Ein Stockfehler, der selbst auf den Sturzäckern von Kreisliga-Klubs nur selten passiert. Ein spektakuläres Torgeschenk an Marokko - die Mannschaft, die Kroatien noch aus dem Rennen hätte kippen können (Kanada war ja schon ausgeschieden). Gefolgt von einer weiteren schwachen Torwart-Aktion beim zweiten Treffer. Kanadas Anschlusstor half nicht mehr.

Ein toxischer Vorfall in einer politisch überfrachteten WM. Ob und wie die Dinge zusammenpassen, ob Kanadas Torwart nur zu aufgewühlt war wegen der Turbulenzen (und dann besser gar nicht erst aufs Feld geschickt worden wäre) - man wird es vermutlich nie erfahren. Sicher ist, dass diese Absurdität in ein WM-Turnier passt, das immer mehr Merkwürdigkeiten aufweist. Dabei hat die neue dunkle Macht, die mysteriöse Video-Schiedsrichterei, gar keine Rolle gespielt im Blackout-Match des Milan Borjan.

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