Italien:Als eine Nation in Trauer versank

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Die Mannschaft des AC Turin. (Foto: dpa)
  • Am 4. Mai vor 70 Jahren starb die Mannschaft des AC Turin bei einem Flugzeugabsturz.
  • Sie war Italiens Stolz, ein Symbol des Wiederaufbaus nach Faschismus und Krieg.
  • Die Tragödie prägt den Verein, der verstörendes Unglück, beklemmende Zufälle und sagenhafte Protagonisten erlebte, bis heute.

Von Birgit Schönau

Der Nebel gehört zu Turin wie die Katzen-Mumien im Ägyptischen Museum, das gigantische Fiat-Werk und der Kakao im ortstypischen Cappuccino Bicerin. Nebel erhebt sich über den mitten durch die Stadt fließenden Po, wabert hoch zu den grünen Hügeln, in denen die feine Gesellschaft edle Jugendstilvillen bewohnt und taucht Turin in mysteriös-melancholische Watte. Den ganzen Herbst und Winter geht das so, aber Nebel im Mai ist eher ungewöhnlich. Am 4. Mai 1949 war so ein exzentrischer Nebeltag, die Stadt erschien wie abgeschlossen von der übrigen Welt, eingehüllt in tief hängende Wolken, ummauert von Regenwänden. Eine gespenstische Kulisse für eine der größten Tragödien des europäischen Fußballs.

Am Nachmittag näherte sich der Stadt ein Charterflugzeug, eine Fiat G212, unterwegs für die ebenfalls im Fiat-Besitz fliegende Linie ALI (Flügel). Drinnen befand sich die Mannschaft des AC Torino, begleitet von Trainerstab und Journalisten, insgesamt 31 Männer. Das Fußballteam war auf dem Heimweg von einem Freundschaftsspiel in Lissabon, gegen Benfica hatte der "Toro" am Vortag 3:4 verloren; eine seltene Niederlage für eine Mannschaft, die damals zu den erfolgreichsten der Welt gehörte. Zu Hause trug sie den Beinamen "Grande", großartig. Il Grande Torino stellte zehn von elf Spielern der Squadra Azzurra, hatte vier Meisterschaften in Serie gewonnen, die fünfte schon sicher und war Italiens Stolz, ein Symbol des Wiederaufbaus nach Faschismus und Krieg. Der wortkarge, autoritäre Kapitän Valentino Mazzola, 30 Jahre alt, ehemaliger Fiat-Arbeiter und Vater von zwei Söhnen, war eine der wenigen allgemein verehrten Ikonen in einem zutiefst gespaltenen Land.

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Entdeckt wurde der Capitano mit der Trikotnummer 10 von Trainer Ernö "Egri" Erbstein, einem ungarischen Juden, der bereits in den Dreißigerjahren als Trainer beim Toro gearbeitet hatte, bevor er auf der Flucht vor den Nazis immer neue Verstecke in halb Europa suchen musste und schließlich mit knapper Not ein KZ in Ungarn überlebte. Der Kontakt zum Turiner Fußball war nie abgerissen, und kaum war der Krieg vorbei, wurde Erbstein wieder engagiert, zunächst als Assistenztrainer, dann als Chefcoach. Unter seiner Ägide spielte der Toro eine italienische Ur-Variante des später von den Niederländern praktizierten Totaalvoetbal, mit Mazzola als Regisseur, der in einer Minute ein Tor verhinderte, um in der nächsten selbst zu treffen. So erinnerte sich die spätere Juventus-Legende Giampiero Boniperti an ein Derby gegen den damals hoffnungslos überlegenen Gegner: "Ich war so sicher, ins Tor getroffen zu haben, dass ich schon die Arme zum Jubel erhoben hatte, als wie aus dem Nichts Mazzola auftauchte und meinen Schuss abfing. Enttäuscht und mit gesenktem Blick trabte ich aus dem Strafraum. Als ich wieder hochschaute, sah ich gerade noch, wie Mazzola vor unserem Tor ankam und den Ball ins Netz versenkte."

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Der calcio totale Piemonteser Prägung wurde von Erbsteins englischem Assistenten Lesley Lievesley mit einem für Italien revolutionären Konditionstraining befeuert - das Ergebnis war eine Mannschaft, die zumeist nur eine Viertelstunde auf Touren kommen musste, um ihre Punkte einzufahren. In der Saison 1947/48 erzielten Mazzola und Co. 125 Tore bei 33 Gegentreffern, sie errangen 29 Siege und kassierten nur vier Niederlagen - keine davon zu Hause, im Stadio Filadelfia. Eine erdrückende Übermacht, eine Modellmannschaft, wie sie vor dem Krieg nur der Lokalrivale Juventus geschaffen hatte. Zwei Jahrzehnte lang war Turin, abwechselnd dominiert von Juve und Toro, die Fußballhauptstadt Italiens - bis zur Katastrophe im Mai.

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(Foto: dpa)

Italiens Stolz, ein Symbol des Wiederaufbaus nach Faschismus und Krieg: Die Mannschaft des AC Turin vor dem Freundschaftsspiel in Lissabon, von dem sie nie zurückkehren sollte.

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(Foto: Getty Images)

Eine der größten Tragödien des europäischen Fußballs: Das Charterflugzeug mit der Mannschaft, den Trainern und Journalisten zerschellt am 4. Mai 1949 an der Mauer der Basilika von Superga.

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(Foto: Getty Images)

Die Basilika liegt hoch über der Stadt und ist eine bedeutende Wallfahrtskirche.

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(Foto: picture alliance / dpa)

Seit 1949 ist die barocke Basilika auch Erinnerungsort an das frühe und jähe Ende einer der größten Mannschaften Italiens. 2016 versammelten sich Spieler und Anhänger des Klubs an der Unglücksstelle.

Im nebelverhangenen Himmel über Turin verlor der Pilot Pierluigi Meroni, genannt Gigi, die Kontrolle über die Maschine mit den Fußballern des Grande Torino. Gigi Meroni, genau so hieß später übrigens das zweite große Spieler-Idol des Toro nach Valentino Mazzola, der "granatrote Schmetterling", ein begabter Feinpinsler und großer Individualist. Der Spieler Gigi Meroni wurde im Oktober 1967 beim Überqueren einer Ringstraße von einem Fan überfahren, der Jahrzehnte später als Toro-Präsident den Klub in die Pleite führte.

Verstörendes Unglück, beklemmende Zufälle, sagenhafte Protagonisten - daraus wurden jene Legenden, die bis heute den FC Turin zum tragischen Heros im Land des Fußball-Melodrams machen. Der erste Akt im Schicksalstheater ereignete sich am 4. Mai um 17.03 Uhr. Das Flugzeug des Grande Torino zerschellte an der Mauer der Basilika von Superga hoch über der Stadt. Pilot Meroni hatte die Kirche, die bei klarem Wetter von so gut wie jeder Stelle in Turin sichtbar ist, nicht gesehen. Der Aufprall war gewaltig, keiner überlebte. Kein Spieler, auch nicht Erbstein und Lievesley, ebenso wenig die drei Journalisten. Eine Nation versank in Trauer.

In Rom unterbrach das Parlament seine Sitzung, als die Nachricht von dem Flugzeugabsturz kam, tags darauf stauten sich auf der engen Straße hügelaufwärts nach Superga schon die Autos von Schaulustigen. Die Identifizierung der Opfer übernahm der frühere Nationaltrainer Vittorio Pozzo, der in den 1930er-Jahren zwei Weltmeistertitel mit Italien gewonnen hatte. Pozzo arbeitete damals als Journalist für La Stampa - der Toro hatte ihn nicht mitnehmen wollen zum Match gegen Benfica. Nur so überlebte der alte Coach, seine Nationalspieler aber wurden mit den anderen Opfern am 6. Mai in einer gigantischen Trauerfeier verabschiedet. Hunderttausende säumten die Straßen, manche sprachen sogar von einer Million Menschen. Den Spielern wurde posthum der noch ausstehende Meistertitel verliehen, die letzten Spieltage der Saison musste die Jugendmannschaft bestreiten. So stark war das Trauma, dass die Squadra Azzurra zur WM 1950 in Brasilien mit dem Schiff anreiste.

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(Foto: Ermes Beltrami/FC Turin)

Mazzolas Erben: Der elfjährige Urenkel von Valentino wird an der Hand seines Großvaters Sandro (re.) im Januar in das Stadio Filadelfia geführt.

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(Foto: Carlo Fumagalli/AP)

Sandro Mazzola (hier 1970 am Ball im WM-Finale gegen Brasilien) trug selbst nie das Trikot der Toro. Er wolle nicht im Schatten der Basilika von Superga seine Heimspiele bestreiten, sagte er einst.

Der AC Torino hatte tatsächlich wieder zwei Spieler im Aufgebot, vor allem aber stellte er den Trainer. Ferruccio Novo war zum Zeitpunkt des Unglücks Klubpräsident, er saß nur deshalb nicht im Flugzeug, weil er die Reise wegen einer Grippe hatte absagen müssen.

Das Stadio Filadelfia ist wieder Heimstatt

Titelverteidiger Italien kam bei dieser WM nicht über die Vorrunde hinaus. Und aus dem Toro wurde nie wieder ein Grande Torino. Es reichte fortan nur noch zu einem Meistertitel 1975 und zu drei Pokalsiegen, aber der Toro musste auch neun Jahre in der zweiten Liga hinnehmen und eine Pleite im Jahr 2005. Klubeigner ist seitdem der Verleger Urbano Cairo, dem unter anderen die Tageszeitung Corriere della Sera und der Privatsender "La 7" gehören. Das "AC" hat dem "FC" aus den Anfangsjahren Platz machen müssen. Aber Cairo hat es geschafft, das Stadio Filadelfia wieder zur Heimstatt zu machen: Die Neueröffnung fand im Jahr 2017 statt, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Schließung.

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Der Toro hat einen starken Sinn für Geschichte und die Glorie der Vergangenheit. So kam es, dass am 26. Januar zum 100. Geburtstag des großen Kapitäns wieder ein Valentino Mazzola im granatroten Toro-Trikot den Rasen des Filadelfia betrat, unter dem Jubel zutiefst gerührter Fans. Der elf Jahre alte Urenkel des Capitano wurde von seinem Großvater Sandro Mazzola begleitet. Als sein Vater Valentino starb, war Sandro Mazzola sieben Jahre alt. Er wurde Fußballer, Nationalspieler, Europameister 1968. Sein ganzes Profileben verbrachte Mazzola junior bei Inter Mailand.

Zum Toro wollte er nie, weil er, wie er einmal sagte, bei jedem Heimspiel die Basilika von Superga gesehen hätte.

Turin will an diesem Wochenende innehalten, bei einer Vielzahl von Gedenkveranstaltungen. Ahnungslose oder auch nur unsensible Funktionäre der Liga aber setzten das Derby zwischen Meister Juventus und dem Tabellensechsten Toro ausgerechnet für den 4. Mai an. Empört protestierten beide Klubs gegen diesen Fauxpas. Die Vorverlegung um einen Tag kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass im straffen Kalender der Unterhaltungsindustrie Fußball kein Platz für Trauer und Gedenken ist.

Die Show muss weitergehen, der Ball darf nicht ruhen. Und die Bilder vom Absturz vor 70 Jahren verblassen im Nebel der Geschichte.

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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