Kommerz und Nostalgie, das sind im Fußball eigentlich kaum vereinbare Gegensätze. In Italien heißt dieser Sport aber nun mal Calcio, und die Uhren ticken ein bisschen anders. Sprich: Kommerz und Nostalgie, das passt sehr wohl, zumindest, wenn das heitere Erinnerungen hervorruft.
Die Fans von Inter Mailand verbinden solche Zeiten mit einem italienischen Reifenkonzern, dessen Logo 26 Jahre zu Werbezwecken auf den Trikots prangte. Ein Vierteljahrhundert, das muss man sich mal vorstellen. Selbst im gemächlichen Calcio ist das eine Ewigkeit. Der Brasilianer Ronaldo trug so ein Trikot, als er 1997 die Weltfußballer-Auszeichnung überreicht bekam, und auch der Argentinier Diego Milito hatte es sich übergezogen, als er Inter 2010 zum Triple-Sieg schoss: Champions League, Meisterschaft und Pokal - das war nicht nur ein Triumph für den damaligen Klubpatron Massimo Moratti, sondern auch für seinen Kumpel Marco Tronchetti Provera, den Chef des werbenden Reifenkonzerns. Für Tronchetti Provera war das Sponsoring, so verklärend das zunächst klingt, ein kleiner Kindheitstraum: Von ihm gibt es Bilder mit Inter-Fanutensilien, da war er noch ein kleiner Stöpsel.
Inter entgehen Einnahmen in Höhe von 85 Millionen Euro
Verbundenheit erzeugt Verlässlichkeit, mit Blick auf die Gegenwart Inters ist das keine Plattitüde. Denn der Verein hat eine Zäsur durchlebt: Inter ist seit 2015 im Besitz des chinesischen Konzerns Suning, der nach eigener Auskunft mal Großes mit dem Klub vorhatte, allerdings nun selbst in finanziellen Nöten steckt. Frisches Geld gibt es deshalb länger nicht mehr, doch wenigstens die Suche nach neuen Werbepartnern wird per globaler Kaltakquise noch betrieben.
Vielleicht hätte man aber besser genauer hingeschaut, wen man da so an Land zieht: Hauptsponsor ist seit dieser Saison Digitalbits, ein Unternehmen aus der Kryptobranche mit Sitz in den USA. Inters Vorstandsboss Alessandro Antonello glaubte an ein tolles Geschäft: Dank dieser Partnerschaft, frohlockte Antonello, werde man eine "globale Reichweite bei jüngeren und digitalaffinen Menschen stärken". Ähnliches war bei der AS Roma zu hören, die Digitalbits ebenfalls als neuen Hauptpartner präsentiert hat. Das Problem ist nur: Geld bekam noch keiner der beiden Klubs überwiesen, obwohl die ersten Tranchen schon Anfang Juli fällig waren.
Insbesondere für Inter ist das eine fatale Situation, denn der Eigentümer Suning macht in China Milliardenverluste, die Mailänder Bilanz ist schon seit Jahren stark defizitär - und jetzt fehlen womöglich auch noch 85 Millionen Euro, die von Digitalbits im Zeitraum von vier Jahren zufließen sollten. Nur Juventus Turin erhält in Italien mehr Geld von seinem Trikotsponsor.
Wohl auch deshalb ist bei Inter eine im Vergleich zur Roma erhöhte Eskalationsbereitschaft zu erkennen: Das Logo des Krypto-Unternehmens wurde von den Trikots der Jugend- und Frauenteams entfernt, auf der Internetseite der Mailänder findet sich kein Hinweis mehr auf den neuen Hauptsponsor. Überdies steht die Drohung im Raum, dass das Unternehmen vor Gericht gezerrt und das Digitalbits-Logo von der Spielkleidung der Serie-A-Mannschaft entfernt wird - womöglich schon an diesem Freitag, wenn Inter bei Lazio Rom seinen dritten Saisonsieg im dritten Spiel feiern könnte. Die AS Roma hat auf derlei Manöver bislang verzichtet und hält sich bedeckt.
Es gilt als ausgeschlossen, dass Digitalbits noch Geld überweisen wird
In Italien heißt es, die Klubs befänden sich in Gesprächen mit Digitalbits, um baldmöglichst eine Lösung in der Sache zu finden. Eigentlich weiß aber schon jeder, worauf diese rauslaufen dürfte: Geld wird's keines mehr geben. Denn Digitalbits, das ein unübersichtliches Sammelsurium an digitalen Diensten und Anwendungen anbietet, hat wie die gesamte Krypto-Branche einen gewaltigen Crash hingelegt: Im Vergleich zum Allzeithoch hat das Unternehmen mehr als 90 Prozent an Kurswert verloren - in nicht mal einem Jahr.
Es darf als ausgeschlossen gelten, dass Digitalbits für Inter und die Roma als langfristige Einnahmequelle dienen wird, weshalb sich beide Vereine längst auf die Suche nach einem neuen Hauptsponsor gemacht haben. Ihre Verhandlungsposition könnte aber besser sein. Beide Klubs drängen als Bittsteller auf den Sponsoring-Markt, und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, weil die besten Deals längst über den globalen Ladentisch gewandert sind.
Vor allem in Mailand verschärft das den ohnehin rigorosen Sparkurs. Inter-Präsident Steven Zhang, Sohn des Suning-Chefs Zhang Jindong, hat das strenge Diktat vorgegeben, der Klub müsse auf dem Transfermarkt mindestens 60 Millionen Euro erwirtschaften, damit die Bilanz nicht gar so desaströs aussieht. Plusvalenza nennt man das in Italien, bei den Tifosi von Inter verursacht dieses Wort mittlerweile Bauchkrämpfe: Schon im Vorjahr war der Klub gezwungen, mehr als 100 Millionen Euro mit Spielerverkäufen einzunehmen.
Bei Inter sind sie froh, dass die meisten Leistungsträger geblieben sind
Angesichts solcher Zwänge leistet der Inter-Sportchef Giuseppe Marotta einen passablen Job. Von ihm wird totale Disziplin in der Buchhaltung verlangt, zugleich muss er gute Geschäfte in hoher Stückzahl produzieren. Besonders profitabel war etwa die Heimkehr des Stürmers Romelu Lukaku, der für eine vergleichsweise moderate Leihgebühr wieder in Mailand spielt, nachdem der FC Chelsea vor einem Jahr noch 115 Millionen Euro für ihn bezahlt hatte. Dass Inter in Italien weiterhin als Titelfavorit gilt, liegt vor allem daran, dass einige Schlüsselakteure trotz lukrativer Offerten nicht verkauft wurden: Der in England begehrte Flügelflitzer Denzel Dumfries wird wohl bleiben, genauso wie der von Paris Saint-Germain heftig umworbene Abwehrmann Milan Skriniar.
Bei Inter hat man sich für einen alternativen Weg entschieden. Statt großer Namen wurde massenhaft Talent veräußert, zum Beispiel der hochgelobte Spielmacher Cesare Casadei, der für 15 Millionen Euro ins Jugendteam des FC Chelsea wechselte. Klingt nach viel Geld für einen 18-jährigen ohne Profieinsatz. Bei Inter wissen sie jedoch: Was heute wie ein gutes Geschäft aussieht, kann schon morgen zum mittelschweren Debakel werden.