Wer den Fußball für ein launenhaftes Tagesgeschäft hält, der sollte sich mal im Calcio umsehen. So nennen die Italiener ihren liebsten Sport, der fundamental ist für das Gefühl, mit dem sie am Morgen aufwachen - beim Zubettgehen kann die Welt dann schon wieder ganz anders aussehen. Ein ewiges, wellenartiges Wechselspiel an emotionalen Ausschlägen.
Dem ausgesetzt sind auch die Protagonisten, die Spieler und Trainer also, die im Zentrum dieses sentimentalen Orchesters stehen. Crescendo statt Diminuendo, die Debatten um Köpfe verlaufen schrill und laut. Vor allem Simone Inzaghi, der Trainer von Inter Mailand, konnte in der vergangenen Zeit ein Liedchen davon singen. Es trüge den Sound eines Abschiedsblues. Seinen Job, hatte es neulich noch geheißen, sei Inzaghi quasi los, in den Medien wurde bereits ausgiebig über mögliche Nachfolger diskutiert.
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Er steht nun bei 45 Saisontoren: Die Durchschlagskraft von Erling Haaland soll Pep Guardiola den Henkelpott bringen. Dafür nimmt der Trainer sogar die Abkehr von fußballerischen Leitgedanken in Kauf - und teaminterne Verstimmungen.
"Non é da Inter", so vernichtend war das Urteil in den Kommentarspalten ausgefallen: Inzaghi, einst ein Edeljoker auf dem Rasen, habe nun mal nicht das Format, um einen Weltklub zu führen. Spurlos war das nicht an ihm vorbeigegangen. Der Coach wirkte angespannt, ausgezehrt, bisweilen abwesend. Als habe er sich - allen obligatorischen Kampfansagen zum Trotz - mit seinem beruflichen Schicksal arrangiert.
Das Finale der Königsklasse ist für Inter kein surrealer Fiebertraum mehr
Doch nun der Dienstagabend: Da gewann Inter 2:0 bei Benfica Lissabon, das Tor zur nächsten Champions-League-Runde wurde damit mehr als nur einen Spalt geöffnet. Und wer weiß schon, was dann noch alles möglich ist. Im Halbfinale ginge es entweder gegen die Stadtrivalin AC Milan oder die SSC Neapel, in einem rein italienischen Duell also, in dem die leichte Favoritenrolle womöglich sogar den Nerazzurri zufiele. Im aktuellen Kalenderjahr hat Inter die Ligakonkurrenten bereits niedergerungen, beide Siege waren überzeugend und verdient. Das Finale in der Königsklasse ist auf einmal kein surrealer Fiebertraum mehr. Welches Gefühl Inzaghi wohl verspürte, als er am Mittwochmorgen aufgewacht ist?
In den italienischen Gazetten sah die Fußballwelt da jedenfalls ganz anders aus, als sie das in den vergangenen Wochen getan hatte. "Inzaghissimo!", titelte etwa der Corriere dello Sport, der überdies fand, dass Inzaghi am Vorabend nicht weniger als ein "Meisterwerk" gelungen sei. Jaja, so klingt es halt, das Crescendo im Calcio: Schrill und laut.
Dass Inzaghi derartigen Tadel abbekam, lag aber ohnehin nicht an Leistungen in Partien, die unter Flutlicht stattgefunden hatten. K.o.-Duelle kann der Coach, daran besteht kein Zweifel: Inzaghi, aktuell in seiner zweiten Saison bei Inter, hat bereits die Coppa Italia und zwei Mal die Supercoppa gewonnen, den nationalen Pokal und Supercup also. Und dass sich der Klub auch auf der internationalen Bühne endlich wieder respektabel präsentiert, das war auch in der Partie gegen Benfica zu sehen: Inzaghi schafft es an solchen Abenden zuverlässig, den Fokus seiner Spieler auf scharf zu stellen und jene Art der Dominanz zu erzeugen, wie das nur italienische Teams können.
Benfica, trainiert vom Deutschen Roger Schmidt, hielt nur auf den ersten Blick ganz ordentlich mit - beim genauen Hinsehen offenbarte sich aber, dass Inter stets die Kontrolle über die Partie behielt. Hinten aufmerksam und organisiert, vorne punktuell gefährlich, und insbesondere Säulenspieler wie die Torschützen Nicoló Barella (51. Minute) und Romelu Lukaku (82./Elfmeter) haben opulente Auftritte dargeboten. Inzaghi sprach hernach zu Recht von einer "optimalen Partie". Und die Kritik? Nun ja, erwiderte der Coach: Der Calcio sei nun mal unerbittlich, aber daran habe er sich gewöhnt.
Ein Verpassen der Champions-League-Qualifikation hätte für die Mailänder fatale Folgen
Das tiefe, grundlegende Problem seiner Mannschaft ist ein anderes. Inter verfällt in eine geradezu gruselige Lethargie, sobald weniger glamouröse Nachmittagstermine anstehen, etwa gegen Klubs wie Empoli, La Spezia oder Bologna. Zehn Niederlagen wurden in der heimischen Serie A bereits angehäuft, Inter ist abgerutscht auf Tabellenplatz fünf - und Inzaghi deshalb mehr denn je angewiesen darauf, seine schwindende Aura mit europäischer Glorie zu kompensieren. Nur: Es ist auch so auszudenken, was los wäre in der Bilanzbuchhaltung des finanziell angeschlagenen Klubs, wenn die Qualifikation zur nächsten Champions-League-Saison verpasst würde. Die chinesischen Eigentümer von der Suning Holding werden den Schaden jedenfalls nicht begleichen: Sie lenken Inter nur noch auf Sparflamme, die jährlichen Verluste werden mit Verkäufen großer Namen wieder reingeholt.
Den aktuellen Inter-Kader halten sie in Italien dennoch für konkurrenzfähig, eine Deutung, die sicher nicht ganz falsch ist. Zur Wahrheit gehört aber: Die Kaderplanung ist so sehr aufs Hier und Jetzt ausgelegt, dass diese Mannschaft wahrscheinlich keine große Zukunft hat. Der Altersschnitt ist enorm, wichtige Akteure haben ihren Zenit überschritten, eine Menge Spieler haben innerhalb der nächsten zwei Jahren auslaufende Verträge.
Inzaghi hat deshalb den klaren Arbeitsauftrag, die Gegenwart Inters zu retten - und seine eigene gleich mit.