Italien-Duell in der Champions LeagueDer Teufel als Drachentöter

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Vier von acht Trainern im Viertelfinale sind Italiener - zwei davon duellieren sich: Stefano Pioli (Milan, links) und Luciano Spalletti (Napoli).
Vier von acht Trainern im Viertelfinale sind Italiener - zwei davon duellieren sich: Stefano Pioli (Milan, links) und Luciano Spalletti (Napoli). (Foto: Ciro Fusco/Zuma Wire / imago)

Milan gegen Napoli im Viertelfinale der Königsklasse - kaum einer hätte das zu Saisonbeginn für möglich gehalten. Und nun entsteht eine ganz neue Dynamik: Der Favorit aus Italiens Süden zeigt plötzlich Schwächen.

Von Oliver Meiler, Rom

In diesem Frühling der kleinen fußballerischen Mirakel gewinnt man zuweilen den Eindruck, die Italiener wären schon mit ihrer Teilnehmerquote in der Champions League zufrieden. Als könnte man für sie das Tableau der letzten Acht einfach so einfrieren, wie ein Stillleben, und den Wettbewerb an dieser Stelle abbrechen. Fürs Museum.

Drei Vereine der Serie A sind noch dabei im Viertelfinale der Königsklasse, wo man sich doch schon lange und mit dunkler Lust am eigenen Niedergang delektiert hatte - abgehängt von der englischen Premier League, von der spanischen Liga, ja sogar von der deutschen Bundesliga. Okay, der französischen Ligue 1 fühlen sich die Italiener überlegen, wenigstens im Gestus. Aber zählt das? Drei von acht also nun! Tre su otto! Napoli, Inter, Milan.

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SZ PlusVon Thomas Hürner und Oliver Meiler

Und so ergab es sich, dass zwei von dreien sogar einen Platz im Halbfinale untereinander ausspielen, AC Mailand und SSC Neapel - eine Qualifikationsgarantie besteht also schon mal. Würde man den Film um ein paar Wochen zurückdrehen, hätte alle Welt auf Neapel gewettet, den Überflieger der Saison mit schier unheimlich konstanter Schwebehöhe.

In der Meisterschaft liegen die Neapolitaner bereits 16 Punkte vor Lazio Rom und 21 vor der AS Roma. Dahinter erst kommen die Mailänder Vereine. Juventus liegt noch weiter zurück, was am Abzug von 15 Zählern liegt, die sich die Turiner wegen des dringenden Verdachts auf sehr unlautere Geschäftsführung eingehandelt haben. Die Zeitungen schreiben von einer Umkehr alter geofußballerischer und -politischer Gewissheiten: Das Zentrum und der Süden des Landes regieren diesmal über den Norden. Das kommt selten genug vor, eigentlich nie, auf keinem Gebiet. Und auch diesmal ist das Phänomen im Calcio wohl wieder flüchtig, einer dieser kometenhaften Momente mit Schweif am Himmel. Aber immerhin.

Die geopolitischen Gewissheiten auf dem Kopf: Italiens Süden dominiert für einmal den Norden

Der Schweif, der gehört Neapel, gefeiert daheim und in Europa für symphonisch schönen und schnellen Fußball. Nur zuletzt leuchtete der Schweif etwas weniger hell.

Das hat nicht unwesentlich mit dem Gegner in diesem ersten italienischen Derby der Champions League seit 2005 zu tun: Milan hat Napoli vor zehn Tagen beim 4:0-Auswärtssieg im Stadio Maradona dermaßen dominiert, in allen Belangen, technisch und taktisch, dass nun fast alle Cheferklärer des Calcio die Chancen beider Teams bei fünfzig-fünfzig sehen. Manche neigen gar zu einem Chancenplus für Milan, zumal Victor Osimhen fehlen wird, der nigerianische Neuner von Napoli: 25 Tore hat er in der laufenden Saison erzielt.

Der junge Mann mit der Maske, im Duo mit dem Georgier Khvicha Kvaratskhelia so etwas wie die Sturm-und-Drang-Werdung des Jahres, laboriert an einer Verletzung an der Leiste. Nichts ganz Schlimmes. Aber man will seine Gesundheit nicht riskieren. Kann Napoli auch ohne ihn? Osimhen fehlte schon im famosen Zäsurspiel gegen Milan, so verlor das Spiel Neapels seine überbordende Intensität. Mehr noch: Ohne seinen Matador ermattete es, es fiel auseinander.

Mr. Nice Guy im Calcio hat eine kurze Bank und zuweilen einen genialen Gedanken

Nun wäre es unfair, die Meriten Milans und ihres Trainers Stefano Pioli nach dieser unverhofften Niederlage geringer einzuschätzen. Der Mr. Nice Guy unter den italienischen Trainern, gibt sich selbst immer dem Understatement hin, obschon er den Verein im vergangenen Jahr zur Meisterschaft geführt hatte. In dieser Saison aber ist sein junges Milan so unstet und oft schwach gegen die Schwachen, dass die Metapher der Achterbahn so oft bemüht wurde wie selten zuvor.

Erfolgsduo - mittlerweile jedoch teils geschwächt: Der Georgier Khvicha Kvaratskhelia gratuliert seinem Angriffskollegen Victor Osimnhen zum 1:0 gegen Juventus Turin.
Erfolgsduo - mittlerweile jedoch teils geschwächt: Der Georgier Khvicha Kvaratskhelia gratuliert seinem Angriffskollegen Victor Osimnhen zum 1:0 gegen Juventus Turin. (Foto: Andrea Staccioli/Imago)

Es mangelt der Stammelf dramatisch an starken Ersatzspielern, oder wie man in solchen Fällen gerne sagt: Milan hat eine kurze Bank. Fällt mal einer der Formatspieler aus, der portugiesische Flügel Rafael Leão etwa, oder der französische Außenverteidiger Theo Hernández, der ebenfalls französische Torwart Mike Maignan, der genauso französische Mittelstürmer Olivier Giroud, oder der Italiener Sandro Tonali, für manche "der neue Andrea Pirlo" - ja, dann wirkt der Meister nur noch mittelmäßig. Die Investitionen am Markt erwiesen sich als Flops, vorab die beiden Belgier Divock Origi und Charles De Ketelaere. Und Zlatan Ibrahimovic, Milans Spiritus und ewiger Masseur des Selbstvertrauens, spürt sein Alter, wie kann es anders sein. Er ist 41.

Gegen Napoli aber hatte Pioli seine Besten zur Verfügung, und er hatte einen Einfall, der ihm nun als mittlere Genialität ausgelegt wird: Er setzte seinen algerischen Mittelfeldspieler Ismaël Bennacer auf Napolis slowakischen Regisseur Stanislav Lobotka an, Metronom und Schaltzentrale der Neapolitaner - und zwar hoch, mit konstantem Pressing. "Lobo" kam kaum zum Atmen. Und da neben Leão, der bei seinen Flügelflügen selbst in traurigen Momenten ein Lächeln auf dem Gesicht trägt, auch der Kreativspieler Brahim Díaz auf der rechten Angriffsseite einen richtig guten Tag erwischt hatte, war Milan plötzlich wieder da, stark gegen einen starken Gegner. Leão und Díaz sind Freunde mit eigenem Torjubel. Wenn einer von beiden trifft, geben sie sich die Hand und verneigen sich voreinander.

Psychologisches Hoch - oder Vorwarnung im passenden Moment? Es gibt da zwei Lehren

Es gibt jetzt zwei Denkschulen. Eine lehrt, Napoli sei gewarnt - so lasse sich sein Trainer Luciano Spalletti nicht mehr vorführen, ganz bestimmt nicht. Die andere sieht Milan psychologisch im Vorteil, beflügelt vom Momentum. Der Teufel, der rotschwarze Diavolo, in der Rolle des Drachentöters. Wenigstens aber des Drachenkitzlers. Milan hat es geschafft, Napoli unter die Haut zu gehen.

Für die Mailänder ist diese Champions League auch aus einem historischen Grund eine besondere. Vor 18 Jahren, am 25. Mai 2005, fand das Finale des Wettbewerbs wie heuer in Istanbul statt. Und Milan war dabei, zumindest eine Halbzeit lang, die erste - es sollte eine der geschichtsträchtigsten Begegnungen in diesem Sport werden. Man spielte gegen den FC Liverpool, zur Pause stand es 3:0 für Milan. Eine Aufführung, als hätten sie die Scala in Atatürks Olympiastadion getragen. Allein das Mittelfeld: Pirlo, Seedorf, Gattuso. Und der Sturm: Kakà hinter Schewtschenko und Crespo. Und die Abwehr erst: Maldini, Nesta, Stam, Cafu. Im Tor: Dida.

Doch dann kam alles anders, sechs Minuten Hölle, von der 54. bis zur 60. Die Reds glichen aus, 3:3 aus dem vermeintlichen Nichts, und gewannen dann das Elfmeterschießen. Unvergesslich, unvergessen. Und nun eröffnet sich tatsächlich die Möglichkeit, dass Milan die Schmach von Istanbul - denn so wird sie empfunden - auswetzen kann. Trotz geschrumpften Etats, trotz kurzer Bank. Aus eigener Kraft sozusagen, sollte die ausreichen. Im selben Stadion.

Ach, was für ein Frühling. Die Gazzetta dello Sport hob am vergangenen Wochenende die drei Trainer der italienischen Viertelfinalisten aufs Cover, alles Italiener, auch der zuletzt eher unglückliche Simone Inzaghi von Inter Mailand. Und sie stellte ihnen noch Carlo Ancelotti zur Seite, den italienischen Coach von Titelverteidiger Real Madrid, mit dem Pokal im Arm. "Carletto" kommt ja aus Reggiolo in der Emilia, er hat den Henkelpott schon vier Mal gewonnen.

Vier von acht Trainern im Viertelfinale sind also Italiener. Europa lerne mal wieder von den italienischen Maestri, so schrie es vom Deckblatt der Gazzetta. Einfrieren, fürs Museum.

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