Im Jahr 2004 attestierten die Ärzte einer Klinik im Schweizer Kanton Solothurn einem gewissen Daniel Albisser aus Lostorf eine Sehstärke von erstaunlich anmutenden 250 Prozent. Zu diesem Zwecke war, wie seinerzeit in einer Pressemitteilung zu lesen war, die weltgrößte, nach wissenschaftlichen Maßgaben kalibrierte Sehtafel in einer exakten Entfernung von 730 Metern zur Klinik montiert worden. 250 Prozent - das sei die damals beste je dokumentierte Sehleistung eines Menschen auf diese Distanz gewesen, hieß es.
Am Samstag bewarb sich Sören Storks darum, Albisser als Rekordhalter abzulösen. Denn Storks sah als Videoschiedsrichter in der 14. Minute der Partie Hertha BSC gegen Mainz 05 etwas, was kein menschliches Auge zu erkennen vermochte: ein angeblich elfmeterwürdiges Handspiel des Mainzers Leandro Barreiro.
Meinung Debatte um den Videobeweis:Unglaublich, aber VAR
Der Videobeweis wurde unter anderem eingeführt, um die Schiedsrichter zu schützen. So wie er in der Bundesliga zurzeit gehandhabt wird, führt er allerdings mehr zu Verunsicherung unter den Referees. Es wird Zeit für einen Krisengipfel.
Nach einer Flanke von Herthas Lucas Tousart hatte Barreiro versucht, im Stile eines Karatekas den Ball abzuwehren. Vergeblich. Der Ball veränderte seine Flugbahn nicht einmal ansatzweise, und sogar die Rotation des Balles schien nicht modifiziert worden zu sein. Obschon Barreiro bekannte, dass er "einen Luftstoß am Handballen" verspürt habe, sprich: mutmaßlich von Glück reden konnte, dass das VAR-Protokoll noch keine Sicherstellung von Schmauchspuren durch Rasterelektronenmikroskopie mit Röntgenmikroanalyse vorsieht.
So oder so: Was nach dem Alten Testament des Fußballs nie und nimmer ein Elfmeter gewesen wäre, wurde, weil das Neue Testament gilt, doch gepfiffen. Obwohl 22 Spieler auf dem Rasen, allerhand Funktionsträger auf den Trainer- und Ersatzbänken und auch zahlreiche TV-Zuschauer sich wunderten, dass sich doch tatsächlich der Videoschiedsrichter (VAR) eingeschaltet hatte. Wie absurd das war, zeigte sich auch am Desinteresse, mit dem die Beteiligten den Tatort verließen. Allen voran der Herthaner Suat Serdar, der den Ball nach der sogenannten Berührung durch Barreiro volley nebens Tor gesetzt hatte.
Schiedsrichter Cortus: "Berührung ist da, Armhaltung strafbar, strafbares Handspiel und somit Elfmeter"
Und dennoch: Wo andere einen inhumanen Legalismus erkannten, nahm Schiedsrichter Benjamin Cortus den VAR in Schutz. Er bekannte, ein Handspiel übersehen zu haben, und outete sich als freudiger Sklave des Brennglases des Videoschiedsrichters. "Der Video-Assistent kann es bildlich nachweisen. Von daher: Berührung ist da, Armhaltung strafbar, strafbares Handspiel und somit Elfmeter", erklärte der Referee. Hertha nahm das Geschenk an. Jessic Ngankam verwandelte den Strafstoß zur 1:0-Führung, die Ludovic Ajorque nach der Pause zum 1:1-Endstand ausglich.
05-Trainer Bo Svensson biss sich am Samstag übrigens ausnahmsweise auf die Zunge; dafür berichtete sein Hertha-Kollege Sandro Schwarz, Svensson habe ihm in den Katakomben des Olympiastadions erklärt, dass man den Elfmeter "nicht unbedingt" geben müsse. Was nur ein herrlicher Euphemismus gewesen sein konnte. Anderntags, nach Ansicht der TV-Bilder, sagte Schwarz exakt das, was (bis auf einen besonders Klarsichtigen) alle, die das Spiel gesehen hatten, auch sagten: "Das war kein Elfmeter. Wir hatten Glück."