Jürgen Klinsmann in Berlin:Sein Lebensmotto: Ganz oder gar nicht

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Jürgen Klinsmann verlegt den Wohnsitz von Los Angeles nach Berlin, um den verschlafenen Hauptstadtklub zu trainieren. Doch nicht nur hilft der 55-Jährige der Hertha - es ist auch andersherum.

Von Philipp Selldorf

Der Vortrag, den Hertha-BSC-Sportchef Michael Preetz bei der Vorstellung des neuen Trainers Jürgen Klinsmann hielt, bestand aus einer langen Reihe gewundener Sätze, in denen viele Ähs und Ähems und noch mehr stereotype Wendungen aus dem Wörterbuch für Fußballmanager vorkamen. Mancher Zuhörer suchte den Knopf zum Vorspulen oder hoffte darauf, dass sich endlich der neben Preetz sitzende Herr mit dem etwas schütteren, aber immer noch blonden Haar einschalten möge. Doch Jürgen Klinsmann, 55, verzichtete höflicherweise darauf, dem Hertha-Manager das Wort und die Arbeit abzunehmen, wenngleich viele Kenner des Berliner Fußballklubs meinen, dass er zu ebendiesem Zweck soeben den Wohnsitz von Los Angeles nach Berlin verlegt hat. Dass der bis zum Saisonende befristete Trainerjob nur der Anfang einer maßgebenden Tätigkeit im Verein sein soll, das ist vorerst nur eine Verdachtsbehauptung - aber eine sehr plausible.

Klinsmann übernimmt ganz oder gar nicht - das ist eine Art Lebensmotto für den dynamischen Schwaben. Unter der Bedingung dieses Prinzips hat er im Jahr 2004 das Mandat für die Betreuung der Nationalmannschaft akzeptiert und dann von seinen Zuständigkeiten regelmäßig und manchmal erbarmungslos Gebrauch gemacht. Mancher Mitarbeiter, der sich für verdient hielt, bekam es zu spüren.

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Sein Engagement bei der Hertha hat sich nun anders entwickelt, als sich Klinsmann das vorgestellt hatte. Als ihn der Investor Lars Windhorst, der mit seiner Firma 224 Millionen Euro in den Klub gesteckt hat, vor Wochen im Aufsichtsrat der Berliner platzierte, stand fest, dass es Klinsmann nicht bei der turnusmäßigen Sitzungsteilnahme belassen wollte. Ein gestalterischer Anspruch ging schon aus seinem Titel "Bevollmächtigter Sport" hervor. Doch dass er dann gleich als Cheftrainer einsteigen würde, das war nicht vorgesehen. Mit der täglichen sportlichen Rasenarbeit hatte er abgeschlossen, allenfalls der Posten des Nationaltrainers kam für ihn noch infrage, zuletzt führte er Verhandlungen mit dem Verband Ecuadors.

Bei der Hertha sah er sich nun allerdings in besonderer Verantwortung, da obsiegte das schwäbische Pflichtgefühl. Er könne ja nicht verlangen, dass alle Beteiligten im Klub - einem der verschlafensten Hauptstadtklubs zwischen Süd- und Nordpol - Gas geben müssten, und sich dann selbst der dringenden Bitte um Hilfe entziehen. Damit würde er sich unglaubwürdig machen, meint Klinsmann. Außerdem passt die Aufgabe in sein neues Dasein: Die Kinder sind aus dem Haus - der Sohn ist Torwart in St. Gallen, die Tochter hat im Mai die Schule abgeschlossen -, er muss nicht mehr an der kalifornischen Küste die Familie hüten, und als Mann in den gehobenen mittleren Jahren stellt sich auch für ihn die elementare Frage: Was tun mit dem Rest des Lebens?

So hilft nicht nur Klinsmann der Hertha. Drei Jahre sind vergangen, seitdem ihn der US-Verband unsanft aus dem Amt des Nationaltrainers entfernte, in so einer Frist gerät man im Fußball in ewige Vergessenheit. Die Tätigkeit als TV-Experte bei RTL rückte Klinsmann wieder ins Bild, einen erfüllten Eindruck hinterließ er jedoch nicht. Jetzt ist er wieder im Geschäft, zu Hause in der Bundesliga, wo alles anfing, und in einem Verein, der zu seinen Ambitionen passt. "Das spannendste Fußballprojekt in Europa" sieht Klinsmann in Berlin vor sich. Das klingt einerseits nach kalifornischer Denk- und Redeweise und andererseits altbekannt. Schon in den Zeiten, in denen Michael Preetz noch Tore für die Berliner schoss, firmierte der Verein unter dem Synonym "schlafender Riese". Mittlerweile ist Preetz 52 Jahre alt und hat sich bei Hertha als Überlebenskünstler bewährt. Er hat Abstiege, Fehleinkäufe und dramatische Fehlbesetzungen auf dem Trainerposten überstanden. Nun muss er außer dem fordernden Investor auch dem energischen Reformer Klinsmann standhalten. Die gemütlichen Zeiten sind vorbei.

© SZ vom 29.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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