Fredi Bobic, 50, trat durch die Tür der Hertha-Kabine im Hamburger Volksparkstadion, und er war zum Abschluss einer missratenen Saison noch ein weiteres Mal entsetzt: "Was für eine Scheißmusik", schimpfte der Manager. Das war angesichts der wummernden Bässe, die bei hohen beats-per-minute-Zahlen durch eine Box gejagt wurden, gut nachvollziehbar.
Doch auf Bobics Lippen war auch ein feines Lächeln zu sehen, auch er spürte jene Erleichterung, die in der Kabinenmusik eine Ausdrucksform fand - und die einer fast schon für verloren gehaltenen Mission galt: Die Hertha konnte in Hamburg den siebten Abstieg ihrer Klubgeschichte doch noch verhindern.
Nach und nach liefen die Berliner Spieler in Richtung Bus, der eine mit einer Flasche Bier in der Hand, der andere mit einer ganzen Kiste, die wenigsten in sich gekehrt, die meisten entrückt. Der Getränkeproviant, so viel ist sicher, reichte nicht bis nach Berlin. Auf dem Weg in die Bundeshauptstadt hielt die Reisegruppe an einer Raststätte und holte bierselig Nachschub.
Pleite in der Relegation gegen Hertha:Mies gelaufen für den HSV
In Hamburg ist die Niedergeschlagenheit nach dem erneuten Nichtaufstieg groß. Trotzdem glauben manche auch an einen "Reifeprozess" im Klub - und für die Rückkehr in Liga eins gibt es bereits Ideen.
Einer der Helden des Abends fiel durch einen speziellen Liedvortrag auf: "Svaite Liga, 'Amburg is' dabei", sang der Argentinier Santi Ascacíbar auf einem Video, das rasch im Netz zirkulierte. Er war berauscht davon, dass die Hertha in Hamburg das Rückspiel der Relegation 2:0 (1:0) gewonnen und dabei einen Auftritt geboten hatte, der staunen ließ. Das eine war, dass der Sieg durch Tore geschah, an denen Standardspezialist Marvin Plattenhardt maßgeblichen Anteil hatte: Dedryck Boyata drückte eine "Platte"-Ecke per Kopf über die Linie (4.), und in der 63. Minute setzte der frühere Nationalspieler selbst einen Freistoß per Kunststoß in den Winkel. Das andere war, dass sich die Hertha als bipolares Team erwies: Die gleiche Mannschaft, die beim 0:1 im Hinspiel am Donnerstag noch kaum etwas gezeigt hatte, was an Fußball erinnerte, lieferte vier Tage später in Hamburg: alles. Geht doch, Hertha!
Geht doch?
Herthas Sieg beim HSV beruhte zu einem hohen Grad auf einer Sowjetisierung der Kabine: Alle Macht den Räten! So zumindest schilderte es Trainer Felix Magath, der einst selbst eine HSV-Legende war, nun aber just "seinen" Hamburgern den Rückweg in die erste Liga verbaute. Jener Magath also betonte: "Prince hat die Mannschaft aufgestellt - und ich habe Gott sei Dank auf ihn gehört."
Fredi Bobic sagt: Die Relegation sei "der letzte Wink" gewesen, um endlich zur Ruhe zu kommen
In den Tagen vor der Rettung war noch von tiefgreifenden Konflikten zwischen dem Routinier Kevin-Prince Boateng, 35, und Magath die Rede gewesen. Die Gerüchte reichten am Ende so weit, dass es bei der Hertha Stimmen gegeben haben soll, die eine Trennung vom 68-jährigen Abstiegskampfspezialisten erwogen hätten. War Magath also entmachtet worden? Fredi Bobic lachte bei dieser Frage auf. Was aber mindestens stimmt: dass Boateng eine große, vielleicht sogar die entscheidende Rolle bei der taktischen Ausrichtung der Hertha und der Aufstellung gespielt hatte. Und dass er dies auch offen erzählte.
"Er ist ein spezieller Typ, ich bin ein spezieller Typ. Das kann voll aufeinanderprallen oder wir verstehen uns überragend. Und wir verstehen uns überragend", beteuerte Boateng, in Bezug auf sein Verhältnis zu Magath. Und ja, der Cheftrainer habe ihm tatsächlich "freie Hand" bei der Personalauswahl fürs Rückspiel gegeben: "Er hat mich gefragt: Wen siehst du besser auf welcher Position", sagte Boateng und lobte an dieser Stelle die "Größe" Magaths. Am Ende stand tatsächlich eine Elf auf dem Platz, die überraschend erstklassig auftrat. Nicht mehr und nicht weniger.
Und nun? Es wird trotz der Rettung eine Zäsur bei der Hertha geben, die eine oder andere Personalie wurde bereits am Dienstag bestätigt: Vizekapitän Niklas Stark verlässt Berlin nach sieben Jahren, auch niedere Chargen wie Lukas Klünter und Nils Körber gehen. Boateng aber will bleiben: "Ihr könnt schreiben: Der Prince is back!"
Vor allem aber beendet nun Felix Magath "das Projekt", wie er es nannte. Eine Weiterbeschäftigung des Trainers habe nie zur Debatte gestanden, sagte auch Bobic. "Ich hatte den Auftrag, die Hertha in der ersten Liga zu halten", erklärte Magath, "ich sehe es als selbstverständlich an, meine Sachen in Berlin zu packen und nach Hause zu gehen", sagte er. Was er nun machen werde? Das beantwortete Magath in der ihm eigenen, ironischen Art: "Holz hacken."
Wer auf Magath folgt, ist offen. Als Favorit gilt der frühere Mainzer Trainer Sandro Schwarz, der am Sonntag mit Dynamo Moskau noch das russische Pokalfinale gegen den Ortsrivalen Spartak bestreiten wird. Er sei in seinen Gesprächen "sehr weit", verriet Fredi Bobic, die Besetzung des Trainerpostens sei eine Frage von Tagen. Aber wenn es nur das wäre.
"Wir müssen Ruhe reinbringen in den Verein", appellierte Boateng, doch davon ist der tief zerstrittene Klub weit entfernt. Finanzgeschäftsführer Ingo Schiller kündigte seinen Abschied an. Und am Dienstagabend gab auch der seit 14 Jahren amtierende Präsident Werner Gegenbauer seinen Rücktritt bekannt. Er hatte längst keine Wahl mehr: Vor der Mitgliederversammlung am Sonntag hatten so viele aussichtsreiche Abwahlanträge gegen Gegenbauer und seine Regierungsmannschaft vorgelegen, dass seine Ära so oder so vorbei gewesen wäre.
Die mit den Händen zu greifende Instabilität der Hertha besorgt Manager Bobic durchaus. Er erinnerte daran, dass er in einen funktionierenden Verein kam, als er 2016 - ebenfalls nach einer überstandenen Relegation - das Management bei Eintracht Frankfurt übernahm, um später den DFB-Pokal zu holen und die Basis für den Frankfurter Europa-League-Triumph zu legen. "Wir brauchen Handlungsfähigkeit", betonte Bobic - allein schon für den bevorstehenden Transfersommer, in dem die in den vergangenen drei Jahren von Investor Lars Windhorst mit 374 Millionen Euro betankte Hertha beim An- und Verkauf von Spielern diesmal einen Überschuss erwirtschaften "muss", wie Bobic sagte.
Auch deshalb appelliert Bobic vor dem nächsten Schlüsseltermin am Sonntag an die "Fürsorgepflicht" der Hertha-Familie: "Mitgliederversammlung ist ganz toll, da muss man sich erst mal drei Stunden beschimpfen lassen. Das macht bestimmt Spaß, wir stehen ja auf so SM-Sachen", hatte er am Montag noch süffisant im TV-Interview gesagt. Am Dienstag rätselte er, ob es am Sonntag "Krawall" oder eine "sachliche Debatte" geben werde.
Bobic beklagt die "Brandbeschleuniger"
Den Investor Windhorst, der sich am Sonntag als Hertha-Mitglied zu Wort melden will, forderte Bobic auf, "ein klares Commitment und eine klare Fürsorgepflicht gegenüber dem Verein" zu zeigen. Zuvor hatte er mit Blick auf das vergangene Jahr gesagt, dass die Hertha unter einer gewaltigen Geräuschkulisse und Äußerungen aus dem Umfeld gelitten habe, die als "Brandbeschleuniger" gewirkt hätten. Bobic sagte aber auch, dass nichts wichtiger sei als Herthas Kerngeschäft, der Sport.
"Fußball kann alles mitreißen - in die Positivität genauso wie ins Negative", sagte er. "Unsere Aufgabe wird sein, dass dieser Motor funktioniert. Wenn das der Fall ist, ziehst du alle mit, weil auch die, die laut sind und hintenrum reden, dann ruhig sind und merken: Oh, da möchte ich auch gern dabei sein."
Bobic aber unterstrich vor allem eines: dass die Hertha in Hamburg eine letzte Gelegenheit geschenkt bekommen habe, um nun zur Besinnung zu kommen: "Das ist der letzte Wink für alle, nicht nur im Verein, sondern auch im Umfeld, zu verstehen, was es heißt, durch schwere Zeiten zu gehen, sagte Bobic: "Diese Relegation war die letzte Chance."