Hertha-Trainer Schwarz und Referee Aytekin:"Körpersprache? Katastrophal!"

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Cheftrainer Sandro Schwarz von Hertha BSC regte sich auf, das Gegentor hätte aus seiner Sicht nicht zählen dürfen. (Foto: Andreas Gora/dpa)

Beim 1:0-Sieg der Leipziger in Berlin sorgt der Siegtreffer für Aufregung. Eine forensische Aufarbeitung zeigt: Der emotional vorgetragene Ärger von Hertha-Trainer Sandro Schwarz berührt ein grundsätzliches VAR-Problem.

Von Javier Cáceres, Berlin

Stell dir vor, der Schiedsrichter entscheidet auf Tor - und kaum einer kriegt's mit! Jedenfalls nicht die beteiligten Parteien und auch nicht das Publikum. So geschehen ist das am Samstagabend in Berlin, als RB Leipzig gegen Hertha BSC in der 40. Minute - letztlich uneinholbar - mit 1:0 in Führung ging. Auf dem Rasen jubelten die Leipziger, jenseits der weißen Kalklinie herrschte Verblüffung.

Der Grund: Schiedsrichter Deniz Aytekin hatte nach der diffusen Szene nicht in seine Trillerpfeife geblasen und auch sonst allenfalls andeutungsweise Anstalten gemacht, die darauf schließen ließen, dass er gerade ein Tor für RB anerkannt hatte. Leipzigs Trainer Marco Rose breitete in der Coaching Zone fragend die Arme zu einem Kreuz aus, als böte er sich für ein Passionsspiel als Statist an. Und sein guter Freund und Hertha-Kollege Sandro Schwarz begann, am Spielfeldrand die Hand zur Faust zu ballen und zu zetern. Aber dazu später.

Die Szene, die Aytekins Team zu klären hatte, war fürwahr unübersichtlich

Die forensische Aufarbeitung des Vorgangs förderte Dinge zutage, die den einen oder anderen erstaunen dürften. Zum Beispiel, dass ein Schiedsrichter laut Paragrafenwerk "nicht zwingend" angehalten ist, in seine Pfeife zu pfeifen, wenn ein Tor fällt. Das muss er übrigens auch nicht bei klaren Abstoß-, Eckstoß- oder Einwurf-Entscheidungen tun. Es steht auch nirgends geschrieben, dass der Referee bei einem Tor auf den Anstoßpunkt deuten müsste - genau das hatte der wütende Schwarz im Nachhinein verlangt. Was der Schiedsrichter hingegen tun muss: vermitteln, dass er eine Entscheidung getroffen hat. Und weil Aytekin und sein Assistent durch Körpersprache nicht eindeutig erkennen ließen, dass sie auf Tor entschieden hatten, als der Ball im Berliner Netz zappelte, gab es verbalen Tumult.

"Der ist völlig überfordert! Auf beiden Seiten! Völlig überfordert! Völlig. Körpersprache? Katastrophal!", brüllte Hertha-Trainer Schwarz dem Vierten Offiziellen entgegen, als das Spiel wieder lief. Diese Worte waren deshalb so rasch in der Welt, weil sie von den Mikrofonen am Seitenrand in die Weiten der Fußballnation übertragen wurden.

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Die Berliner ärgern sich beim 0:1 mächtig über die Szene, die zum entscheidenden Treffer für Leipzig führt. Trainer Schwarz wird gegenüber den Schiedsrichtern emotional - doch zur Niederlage tragen auch eigene Fehler bei.

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Das Einzige, was eindeutig zu sehen war: Aytekin war darum bemüht, die Lage, die nach einem scharfen Eckball von Leipzigs Dominik Szoboszlai entstanden war, mithilfe des Videoschiedsrichters zu klären. Und das Ganze war weiß Gott unübersichtlich: Der Ball flog vor die Torlinie, Leipzigs Mohamed Simakan sprang zum Kopfball hoch, Herthas Torwart Oliver Christensen tat im Rücken des Franzosen das gleiche. Der Ball flog nicht sofort ins Tor, sondern erst mal wieder hinunter, wo ihn Christensen erst mit der Hand von der Linie wischte. Dann bugsierte ihn der Leipziger Amadou Haidara ins Netz. Doch war da alles mit rechten Dingen zugegangen?

Aytekin selbst, so behauptete er es jedenfalls später, wollte genau gesehen haben, dass zumindest kein Foul am Hertha-Torwart vorgelegen hatte. Ein irregulärer Einsatz von Simakan war tatsächlich nicht erkennbar. Bei der Hertha kam allerdings nicht gut an, dass sich aus der Intervention Christensens später ein Debatten-Nebenstrang entwickelte. Denn in der Mixed Zone sprach Aytekin davon, dass nicht nur "kein Foul" vorgelegen, sondern Hertha in der Szene "schlecht verteidigt" hätte. Ein Schiedsrichter, der zu fußballerischen Inhalten kritisierend Stellung nimmt? Kurios! Aber diese Diskussion führt am Kernproblem vorbei: dass die Minuten verronnen, bis Gewissheit herrschte, ob das Tor anerkannt wird oder nicht.

Viel Klärungsbedarf: Herthas Cheftrainer Sandro Schwarz (Mitte) ist mit der Leitung von Schiedsrichter Deniz Aytekin alles andere als einverstanden. (Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Aytekin nämlich bewegte sich erst mit Verzögerung und recht gemütlich in Richtung Mittellinie, was allenfalls ein Indiz dafür war, dass er auf Tor entschieden hatte. Tatsächlich tauschte er sich überaus intensiv mit dem Videoreferee im Kölner Keller aus. In einer Hinsicht ist Aytekin hierbei ein gebranntes Kind: Bei einem Spiel zwischen Freiburg und Mainz aus der Vorsaison hatte er ein regelwidriges Tor gegeben, weil sich das Schiedsrichterteam auf ein mögliches Handspiel fokussiert und eine Abseitsstellung übersehen hatte. Derlei will Aytekin nie wieder erleben - schon gar nicht in einer Partie, in der so viel auf dem Spiel stand wie am Samstag: Die Hertha stürzte am Ende des Spieltags auf einen direkten Abstiegsplatz ab und muss nun am Freitag als Vorletzter bei Schlusslicht Schalke antreten - die Leipziger rückten durch den 1:0-Sieg am SC Freiburg vorbei auf den vierten Champions-League Rang vor.

Ein früherer Topschiedsrichter ist über die Entscheidungsfindung befremdet

Dem Vernehmen nach soll Aytekin in seinem Austausch mit dem VAR intensiv darauf gedrängt haben, die Szene vollumfänglich abzuklopfen: Gab's im Gedränge ein Leipziger Handspiel? Oder eine mit bloßem Auge nicht zu erkennende Abseitsstellung? Die Rückmeldung des VAR: Das Tor war legal! Sandro Schwarz, siehe oben, tobte. Und der Hertha-Coach ärgerte sich auch später in der Pressekonferenz noch, pardon, schwarz. "Es kann mir keiner erzählen, dass er es genau in dieser Situation so bewertet hat. Auf keinen Fall. Sonst hätte er direkt auf den (Anstoß-)Punkt gezeigt", zürnte er wegen Aytekins Unentschlossenheit. So wirkte es, als sei ein Oberschiedsrichter am Werk gewesen, den es im Fußball nicht gibt und nicht geben soll.

Eine neutrale Instanz, der frühere spanische Topschiedsrichter Eduardo Iturralde González, war deshalb über die Entscheidungsfindung in Berlin befremdet - und pflichtete aus der Ferne Schwarz im Grunde bei. Dessen Kritik deute auf ein grundsätzliches Problem hin: "Es gibt immer mehr Schiedsrichter, die beim Pfeifen tricksen und sich vom VAR retten lassen, wenn sie zweifeln", sagte Iturralde am Telefon. Das sei dem Geist des Spiels abträglich. Ein Schiedsrichter müsse, auch gemäß VAR-Protokoll, immer so agieren, als gäbe es den VAR nicht. Sprich: durch die Pfeife oder mindestens durch Körpersprache eine Entscheidung treffen - und deutlich vermitteln. "Wenn du eine Entscheidung triffst und keiner bekommt sie mit, läuft etwas schief. Das ist bei kontroversen Situationen umso unglücklicher", befand Iturralde.

Aytekin und Schwarz sollen sich übrigens noch ausgesprochen haben - im Vip-Raum des Olympiastadions. Dort soll der Mann in Schwarz dem Trainer Schwarz erklärt haben, dass er fast noch nie in seiner Karriere bei Toren gepfiffen habe.

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