Handball-EM:Raus aus dem Schatten

Lesezeit: 3 min

Schweden will 2024 in Deutschland seinen EM-Titel verteidigen. Vor zwei Jahren wurden die Skandinavier zum fünften Mal Europameister. (Foto: Johanna Lundberg /Bildbyran/Imago)

Schweden schlägt mit einem jungen Team Titelverteidiger Spanien in einem hochklassigen und dramatischen Finale und wird Europameister. Der sportlich gelungene Abschluss versöhnt immerhin für ein chaotisches Corona-Turnier.

Von Ralf Tögel

Ausgerechnet Joan Canellas. Knapp zwei Meter und 110 Kilogramm personifizierte spanische Handball-Klasse, ein 35-jähriger Stratege, der im Laufe seiner langen und erfolgreichen Karriere ausschließlich bei Weltklubs unter Vertrag stand, ein Profi, mit allen Wassern gewaschen. Bei der Handball-Europameisterschaft in Ungarn und der Slowakei war er noch einmal zu großer Form aufgelaufen, hatte sein Team gegen Weltmeister Dänemark ins Finale geführt, mit Zauberanspielen und sieben Toren. Auch im Endspiel gegen Schweden hatte er seiner Mannschaft, als sie nicht recht ins Spiel finden wollte, den Weg gezeigt. Canellas strukturierte das Angriffsspiel, hatte den Blick für den besser postierten Nebenmann, schuftete in der Abwehr.

Und nun stand es 26:26, nur 24 Sekunden waren noch zu spielen - und dann nahm Canellas diesen Wurf. Er wollte ein Foul provozieren, Zeit von der Uhr nehmen, die Gelegenheit schaffen, sich für den finalen Versuch zu präparieren. Aber Jonathan Carlsberg und Jim Gottfridsson taten ihm den Gefallen nicht, sie blieben regelkonform, und Canellas musste abschließen. Heraus kam ein Würfchen, für Schwedens Torhüter Andreas Palicka kein Problem, und für die Schweden die Chance zum letzten Angriff. Albin Lagergren bekam den Ball, stürmte mit Wucht auf das spanische Tor und wurde zu Fall gebracht - von Joan Canellas.

Handball-EM
:Mit dem letzten Siebenmeter

Schweden gewinnt in einem dramatischen Finale gegen Titelverteidiger Spanien die Handball-Europameisterschaft - und beendet damit eine Durststrecke von 20 Jahren.

Von Ralf Tögel

Siebenmeter, die Zeit war abgelaufen. Das Ende ist bekannt, der Kieler Rechtsaußen Niclas Ekberg verwandelte zum 27:26, Schweden ist Europameister.

Es war ein hochklassiges Endspiel, geführt von zwei Mannschaften, die den Titel zu Recht unter sich ausmachten. Auf der einen Seite die Spanier, Gewinner der beiden EM-Turniere zuvor. Ein Team, das jedoch auf eine Reihe Routiniers verzichten musste, die maßgeblich für die Erfolge der jüngeren Vergangenheit standen. Dennoch hatte es Trainer Jordi Ribera geschafft, eine stimmige Mischung zu formen, aus den verbliebenen Haudegen wie Canellas und Kapitän Gedeon Guardiola, 37, aus Nachnominierten wie Daniel Sarmiento, 38, und aus nachrückenden Hochtalentierten wie Aleix Gomez, 24, der zum besten Rechtsaußen des Turniers gewählt wurde, oder Spielmacher Ian Tarrafeta, 23. Ein Team, das sich einmal mehr mit Teamgeist und Einsatzwillen nach holprigem Start ins Turnier biss. Und im Halbfinale den Turnierfavoriten Dänemark aus dem Wettbewerb gekegelt hatte.

Die Schweden sind aus dem Schatten der "Bengan-Boys" herausgetreten, diese Mannschaft könnte vor einer großen Zukunft stehen

Auf der anderen Seite die deutlich jüngeren Skandinavier, aus deren Reihen der alte Schwede Ekberg mit seinen 33 Jahren herausragte. Mit dem Titelgewinn nach einer 20-jährigen Durststrecke ist diese Mannschaft endgültig aus dem Schatten der "Bengan-Boys" herausgetreten, jener legendären Mannschaft um den Jahrhundert-Handballer Magnus Wislander und Erfolgstrainer Bengt Johansson, die in den 1990er-Jahren dominierte und letztmals 2002 einen großen Titel für die Skandinavier erringen konnte. Spieler wie Oscar Bergendahl 26, Felix Claar, 25, Lucas Pellas, 26, Jonathan Carlsbogard, 26, oder Karl Wallinius, 23, haben eine große Zukunft vor sich.

Es ist ein begeisternder Stil, den der norwegische Trainer Glen Solberg seinem Team verordnet hat: Aus einer starken Abwehr werden Ballgewinne mit Hochgeschwindigkeit in Konter umgesetzt, so überrennen die Schweden ihre Gegner regelrecht. Unangefochtener Anführer ist Jim Gottfridsson, der seiner stattlichen Sammlung an individuellen Trophäen eine weitere hinzufügen konnte: Der 29-Jährige, der Übersicht und Torgefährlichkeit in sich vereint, wurde zum wertvollsten Spieler des Turniers gekürt. Assistiert von Linksaußen Hampus Wanne, 28, der mit 45 Treffern bester schwedischer Schütze war, und Kreisläufer Oscar Bergendahl, 26, der zum besten Abwehrspieler des Turniers gewählt wurde, warfen die Schweden erst Geheimfavorit Norwegen aus dem Turnier, ehe gegen Olympiasieger Frankreich im Halbfinale ein 34:33-Erfolg nach Verlängerung gelang.

Herausragender Akteur war dabei Torhüter Palicka, mit 35 Jahren einer der wenigen Routiniers im Team, der den letzten Wurf akrobatisch parierte. Dabei musste der Torhüter, der jahrelang für die Rhein-Neckar Löwen in der Bundesliga spielte, nach einer Corona-Infektion bangen, ob er überhaupt rechtzeitig fit wird. Wurde er, in den beiden Finalspielen glänzte er nicht nur mit seinen Paraden, sondern auch als Torschütze: Insgesamt vier Treffer erzielte er mit direkten Würfen ins Tor, wenn der Gegner in Unterzahl den eigenen Keeper zu Gunsten eines Feldspielers im Angriff vom Feld nahm.

Und die Deutschen? Es bleibt die Frage, was ohne Corona möglich gewesen wäre

So kam es in einem Turnier, bei dem mehr als 100 Spieler Corona-infiziert ausfielen, immerhin zu einem aus sportlicher Sicht versöhnlichen Abschluss. Letztlich belegten die Favoriten die besten Plätze, Weltmeister Dänemark, Olympiasieger Frankreich, der nun ehemalige Europameister Spanien und der neue Titelträger Schweden. Klingt wie das Ende einer ganz normalen, sportlich regulär verlaufenen EM. Gleichwohl bleiben Fragen, vor allem im deutschen Lager: Was wäre möglich gewesen, wenn sich nicht 16 Spieler mit dem Virus infiziert hätten? Immerhin gab es für Kapitän Johannes Golla das Gütesiegel Weltklasse, er wurde zum besten Kreisläufer des Turniers gewählt. Aber auch die Kroaten, die Isländer und das Überraschungsteam aus den Niederlanden wurden vom Virus gebremst, kein Teilnehmer kam ohne Quarantäne ins Ziel. Dieser Aspekt wird vielleicht länger nachhallen als der sportlich versöhnliche Abschluss.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: