Belgiens Aus bei der Fußball-WM:Lukaku weint dicke Tränen

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Verzweifelt angesichts einer Fülle von vergebenen Topchancen: Romelu Lukaku. (Foto: Ferrari Fabio/dpa)

Der Stürmer steht symbolisch für das Scheitern einer in die Jahre gekommenen belgischen Mannschaft. Nach dem Rücktritt von Trainer Martínez könnten sich einige Stammspieler von der Nationalelf verabschieden.

Von Sven Haist, ar-Rayyan

Vermutlich konnte Thierry Henry besser als jeder andere nachempfinden, wie sich Romelu Lukaku am Donnerstagabend fühlte. Der französische Welt- und Europameister erzielte in seiner ruhmreichen Karriere allerhand Tore. Aber als Angreifer blieb selbst der Ausnahmekönner Henry, der Belgiens Nationaltrainer Roberto Martínez bei der WM 2018, der EM 2021 und nun beim Weltturnier in Katar assistierte, nicht von vergebenen Großchancen verschont. Beispielsweise ließ er im Champions-League-Finale 2006 eine erstklassige Möglichkeit liegen, das Spiel zugunsten seines Vereins FC Arsenal in der Schlussphase zu entscheiden. Stattdessen drehte der FC Barcelona mit einem Doppelschlag die Partie und holte den Pokal.

Keinem Torjäger bleiben solche Rückschläge im Verlauf einer Karriere erspart. Doch der Belgier Lukaku vergab im Entscheidungsspiel gegen Kroatien um den Einzug ins Achtelfinale nicht nur eine todsichere Chance auf den Siegtreffer - sondern gleich zwei, drei, vier, fünf. Dabei hätte er nicht mal alle Möglichkeiten nutzen müssen. Schon ein einziges Tor hätte Belgien gereicht, um sich den zweiten Platz hinter Gruppensieger Marokko zu erspielen.

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So lebt der Traum der Kroaten, die es als nächstes mit Japan zu tun bekommen, von einem Coup wie vor vier Jahren weiter, als das Team um Trainer Zlatko Dalić überraschend ins Finale einzog. Währenddessen dürfte der Spielfilm des 0:0 bei den Belgiern und insbesondere bei Lukaku fortan Albträume hervorrufen.

Um den Angriff zu verstärken, griff Martínez bereits zur zweiten Halbzeit auf Lukaku zurück, der soeben erst eine hartnäckige Oberschenkelverletzung auskuriert hatte, die ihn einen Monat außer Gefecht setzte. Mit seiner Durchsetzungsstärke sollte er den Belgiern im Strafraum als Zielspieler für Flanken dienen. Mit fast allen Körperteilen, dem Kopf, der Brust, dem Schienbein und dem Fuß, versuchte Lukaku, den Ball irgendwie über die Torlinie zu drücken - zunehmend verzweifelt.

Zuerst scheiterte er in der 48. Spielminute an Kroatiens Torwart, eine Viertelstunde später köpfte er freistehend im Fünfmeterraum über das Tor. In der dramatischen Schlussphase wurde er endgültig zum Unglücksmann: In der 87. Minute lenkte er eine Flanke mit dem Schienbein knapp am Pfosten vorbei und verstolperte anschließend kurz vor der Torlinie mit der Brust eine Hereingabe. Zuvor hatte er noch mit dem Fuß einen Abpraller aus wenigen Metern an den Innenpfosten gedonnert.

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Aus Verzweiflung zog sich Lukaku nach Abpfiff das Trikot über den Kopf und zertrümmerte völlig aufgelöst auf dem Weg zum Stadionausgang mit der Hand eine Plexiglasscheibe auf der Ersatzbank. Nicht mal in den Armen des ihn rührend tröstenden Henry fand er zur Ruhe, dicke Tränen kullerten über sein Gesicht. Die Missgeschicke wurden teils mit Spott und Häme kommentiert.

Die spanische Zeitung AS schrieb in Anlehnung an die Bezeichnung "MVP" ("most valuable player") für den wertvollsten Spieler über Lukaku vom "LVP" ("least") - dem am wenigsten wertvollen Spieler. Dabei hätte er eigentlich Zuspruch verdient gehabt. Er versuchte ja, seiner Mannschaft zu helfen und opferte sich auf, indem er in dieses Match gegen Kroatien ohne jede Spielpraxis gelangte.

Mit dem Wechsel von Inter Mailand zum FC Chelsea begann im Sommer 2021 Lukakus Unglück

Das verfehlte Tor war für Lukaku, der sagenhafte 68 Treffer in 103 Länderspielen erzielt hat, der Tiefpunkt gänzlich vermaledeiter anderthalb Jahre. Sie begannen mit dem Wechsel von Inter Mailand zum FC Chelsea im Sommer 2021, für die Klubrekordablöse von 113 Millionen Euro. Seinerzeit galt er als Königstransfer der Londoner. Mit ihm verfolgte der Klub die Ambition, die Premier League zu gewinnen. Allerdings warfen ihn die hohen Erwartungen ebenso zurück wie zahlreiche körperliche Probleme.

Zu keiner Zeit schien er richtig fit zu sein (und dem Vernehmen nach tat er auch nicht immer alles dafür). Im Dezember 2021 gab er dem TV-Sender Sky Italia ein folgenreiches Interview, in dem er etwas zu sehr die Nase über Chelsea rümpfte und gleichzeitig von Inter schwärmte. Der Verein ordnete eine saftige Geldstrafe an, womit seine Tage bei den "Blues" gezählt waren. Nach der Saison verlieh ihn Chelsea an Inter. Dort kommt er aufgrund etlicher Blessuren erneut nicht so recht in Fahrt. Mit 29 Jahren ist zwar anzunehmen, dass sich Lukaku nochmals zu alter Form aufrappeln kann - aber gilt das auch für seine Nationalelfkollegen?

Unmittelbar nach der Partie trat der sichtlich emotionale Trainer Martínez nach sechs Jahren zurück, sein Vertrag lief ohnehin aus. Soweit wollte zunächst kein Spieler gehen. Sowohl die Routiniers Jan Vertonghen und Dries Mertens, beide 35, als auch Axel Witsel und Toby Alderweireld, beide 33, sowie Kapitän Eden Hazard, 31, hielten sich über ihre Zukunft im Nationaltrikot bedeckt. Einige von ihnen könnten auf die im Sommer 2024 anstehende EM in Deutschland spekulieren.

Allerdings drängt sich immer mehr die Frage auf, ob ihr Mitwirken überhaupt gewollt ist. Die belgische Tageszeitung Het Laatste Nieuws titelte: "Jan, Dries, Axel, Toby ... es war schön!" Vorzeigeprofi Kevin De Bruyne kritisierte zuletzt unverblümt, das Team sei "zu alt". Seine Aussagen verursachten einen Streit und ramponierten den guten Ruf der Mannschaft, deren bestes Ergebnis der beachtliche dritte Platz bei der WM 2018 ist.

Trotz des Vorfalls und des damit durchaus verbundenen frühen Ausscheidens wüssten die Fans zu schätzen, was über die Jahre geleistet worden wäre, glaubt Martínez. Und stellte zum Abschied die These in den Raum, bei einem Erreichen des Achtelfinales hätte man "das wahre Belgien" gesehen. Gerade im Zusammenhang mit der als "goldenen Generation" gepriesenen Auswahl klang das nach einem letzten leeren Versprechen. Denn dafür fehlte analog zum lange torlosen WM-Halbfinale 2018 gegen Frankreich wieder mal der eine entscheidende Treffer - der Thierry Henry in seiner Karriere so oft gelang.

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