Fußball-WM: Argentinien:Zwei Kinder mit Ball

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Der Goldjunge und der Wunderfloh: Argentinien blickt zum Start der WM gegen Nigeria gebannt auf den Taktik-Neuling Diego Maradona und dessen dribbelnden Wiedergänger Lionel Messi.

Peter Burghardt

Der berühmteste Alleingang der Fußballgeschichte dauerte zwölf Sekunden, es war der 22. Juni 1986. Heutzutage feiern die Anhänger der Maradona-Kirche zu diesem Termin Ostern - damals begriffen den historischen Moment im Azteken-Stadion von Mexiko-Stadt wenige so schnell wie der Reporter Victor Hugo Morales. Gerade hatte Diego Maradona im WM-Viertelfinale den Ball zum 1:0 gegen England ins Netz geboxt: "Es war die Hand Gottes", erläuterte der Schütze nachher. "Die Hand des Teufels", schrieb The Sun. Zwei Minuten später nahm Argentiniens Nummer 10 in der eigenen Hälfte den Ball an. Es ging los.

Handschlag der Helden: Argentiniens Trainer Diego Maradona und Wunderstürmer Leo Messi (li.). (Foto: getty)

Der damals beste Fußballspieler der Welt schüttelte Hoddle ab und Reid, ließ Sansom stehen, Butcher und Fenwick. Er umkurvte den englischen Torwart Shilton und schoss von rechts zum 2:0 ins linke Eck. "Genio, Genio", brüllte auf der Pressetribüne wie von Sinnen der in Argentinien lebende Uruguayer Victor Hugo Morales, seither die berühmteste Radiostimme Lateinamerikas. "Genie, Genie. Ich will heulen! Heiliger Gott, es lebe der Fußball! Maradona, im besten Spielzug aller Zeiten. Himmelsdrachen, von welchem Planeten kommst du, dass du so viele Engländer auf der Strecke lässt? Diegol, Diegol (,Gol' bedeutet auf spanisch ,Tor', d.Red.), Diego Armando Maradona. Danke Gott, für den Fußball, für Maradona, für die Tränen, für dieses Argentinien zwei, England null!"

Die berühmte Hand Gottes

Das Solo und der Spruch wurden seither hunderttausendfach wiederholt. Der ähnlich exzentrische Franzose Eric Cantona sagte einmal: "Im Laufe der Zeit wird man sagen, dass Maradona für den Fußball das war, was Rimbaud für die Dichtkunst und Mozart für die Musik war." Den Treffer gibt es auch mit Tangomusik unterlegt und in Buchhandlungen von Buenos Aires als Daumenkino zum durchblättern. "El Gol del Siglo", das Tor des Jahrhunderts. Dann kam das 21.Jahrhundert, und die Geschichte wiederholte sich.

Im Stadion Camp Nou des FC Barcelona schnappte sich Lionel Messi am 18.April 2007 ebenfalls noch vor der Mittellinie den Ball und machte Maradonas Zirkusnummer nach. Der damals 19-jährige Argentinier überspielte fünf Gegenspieler sowie den Torwart und besorgte auf nahezu exakt gleichem Wege das 2:0 im Pokalspiel gegen Getafe: in zwölf Sekunden. Die Kopie war so verblüffend, dass beide Tore auf Youtube nebeneinander und übereinander geschnitten wurden, in manchen Versionen mit Morales' Kommentar - es passte fast auf die Zehntelsekunde. Ein paar Wochen später traf Messi auch noch wie Maradona mit der Hand, ohne dass der Schiedsrichter es gemerkt hätte. Spätestens seit solchen Plagiaten fragen sich Argentinien und der Rest der Welt: Ist Messi Maradonas Wiedergänger?

Victor Hugo Morales findet den Vergleich dämlich, er sitzt nach seiner samstäglichen Opernsendung vor einem Studio im Zentrum von Buenos Aires. Ja, Opernsendung, Morales mag Musik so gern wie Fußball. "Messi hat Anflüge von Genialität", sagt er, "aber ein Genie ist einer, dessen Großtaten keinen mehr überraschen. Wie früher bei Maradona." Aber der Vergleich wird diese Weltmeisterschaft prägen. Beim letzten argentinischen WM-Sieg drehte sich alles um den Spieler Maradona. Jetzt ist Maradona nach mehreren Wiedergeburten der Trainer, trägt einen graumelierten Bart und wird im Oktober 50, an Weihnachten für die Maradona-Kirche. Seine Nummer 10 übertrug er Messi, bald 23 Jahre alt, Weltfußballer, Welttorjäger, Gehaltskrösus, Jahreseinkommen 33 Millionen Euro. Diego betreut Lionel. Es wird das interessanteste Experiment dieser WM.

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Weil sie so ähnlich sind, einerseits. Zwei Kinder mit dem Ball. Sogar die Unterschriften gleichen sich: Maradona setzt in Druckbuchstaben ein DIEGO unter sein Autogramm, Messi ein LEO. Die Gemeinde nennt den einen D10S, Dios heißt Gott, die 10 steht für die Rückennummer. Beim anderen bietet sich das Wortspiel Messias an.

Maradona wuchs auf zwischen den Bretterbuden von Villa Fiorito im Südwesten von Buenos Aires, ganz in der Nähe der heutigen Anlage des Fußballverbandes Afa, neben Kuhweiden und Flughafen Ezeiza. Aus Villa Fiorito kommt seine neue Freundin, und in Ezeiza wohnt er. Messi stammt wie seine neue Freundin aus Rosario, der Heimat des Guerilleros Che Guevara, den sich Maradona auf den rechten Oberarm tätowiert hat. Beide wurden auf Bolzplätzen entdeckt, Maradona in einem Team namens Cebollitas, Zwiebelchen, Messi bei Grandoli, beider Entdecker sind vor einem Jahr gestorben. Beide unterhielten im Bubenalter als Balljongleure das Publikum auf den Tribünen: Maradona in der Halbzeitpause bei Argentinos Juniors, deren Stadion heute Maradona-Stadion heißt - Messi bei Newell's in Rosario, wo der alternde Maradona 1993 kurz unter Vertrag stand. Beide halten mit Füßen und Kopf auch mühelos Tennisbälle oder Orangen in der Luft.

Rauschmittel und Medikamente

Beide haben dieses Talent, dieses lebenslange Versprechen, das manche einlösen und andere nicht. Beide vertrauen außer dem Ball vor allem ihrem Clan. Maradona wird inzwischen gemanagt von seiner geschiedenen Frau, die er einst in einer Konzerthalle geheiratet hatte, Mutter seiner beiden Töchter und Schwiegermutter seines Stürmers Sergio Agüero. Messi von Vater und Brüdern. Andererseits sind sie so himmelweit verschieden. Zwei Pole. Da ist einer, der seinen Körper mit Rauschmitteln aller Art malträtierte. Und einer, der nur mit Medikamenten wachsen konnte.

Als Maradona so alt war wie Messi jetzt, da begann er in Barcelona weißes Pulver zu schnupfen, die Droge von Ruhm und Stress und Erfolg. Die Sucht nach Kokain und Champagner und Zigarren und dem Leben am Rande des Abgrunds brachten ihn später fast so früh ins Grab wie Evita Perón, Che Guevara und Carlos Gardel, Argentiniens übrige Legenden. Doping, Überdosen, Herzanfälle, Leberschäden. "Ich war praktisch tot, habe nichts mehr verstanden, da war nur Dunkelheit, ich habe mich von innen gesehen und konnte nicht mehr reagieren", berichtete er nach einem Zusammenbruch. Der "Pibe de Oro" von einst, der Goldjunge, wurde dick wie ein Fass, war auf Entzug in Havanna bei Fidel Castro, auf Intensivstationen und der Psychiatrie von Buenos Aires, ließ sich den Wuschelkopf Orange färben und nahm nach einer Magenverkleinerung in Kolumbien wieder 60 Kilo ab.

Der neunjährige Messi dagegen saß Ende Oktober 1997 beim Endokrinologen Diego Schwarzstein in Rosario, Maradona hatte gerade als Feldspieler aufgehört. Der Knirps war mit einer Wachstumsschwäche geboren worden: "La Pulga", der Floh. Die Eltern weinten, der Sohn war viel zu klein für sein Alter. Der Arzt verschrieb Hormone, die sich der Patient jeden Abend in beide Beine zu spritzen hatte wie ein Diabetiker Insulin. Die Arznei wurde Familie und Klub bald zu teuer, Argentinien näherte sich dem Staatsbankrott. 2000 griffen die Talentsucher vom FC Barcelona zu. Mit 13 zog der Wunderknabe nach Spanien, er war nur gut 1,40 Meter groß, Nachwuchstrainer Carles Rexach ließ auf einer Serviette unterschreiben. Am 16. Oktober 2004, Maradona war gerade im Hospital auf Kuba, wurde der 17-jährige Messi für sieben Minuten in die erste Mannschaft eingewechselt. "Leo Messi spielt wie ein Engel", schrieb die Zeitung El País anderntags. Das Staunen der Zuschauer verebbte danach nicht mehr.

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Scheu blieb der nette Leo, ganz anders als Maradona. Ob er dessen Biografie "Ich bin der Diego des Volkes" kenne, wurde Messi mal gefragt. Antwort: "Angefangen, nicht zu Ende gelesen. Lesen ist nicht so meins." Noch vor der WM 2006 hatte Messi einen sanften Händedruck und schaute bei seinen wortkargen Interviews auf den Boden. Außer Fußball spielt er am liebsten mit der Playstation. Zinedine Zidane glaubt, Messi sei nicht mal mit dieser Playstation zu stoppen. Auf Werbefotos wirkt der bestbezahlte Profi des Planeten verloren. Inzwischen ist er aber selbstbewusster geworden und ein bisschen weniger leise. "Es lebe Argentinien, verdammt noch mal", rief er nach Barças Meistertitel ins Mikrofon, ein Anfall von Patriotismus. Nach der Ankunft in Buenos Aires verkündete er: "Ich will bei der WM beweisen, dass ich für Argentinien dasselbe leisten kann wie für Barcelona."

Seine meisten Tore schoss er bisher ja für die Katalanen, entsprechend distanziert verehren die Argentinier ihren teuersten Export. Er war ihnen zu weit weg, hat ihnen noch zu wenig Glück beschert und zu wenig Ärger. Nicht wie Skandalnudel Maradona, der mal einen Lastwagen fuhr und mit seinem metallic-blauen Mini kürzlich einem Kameramann über den Fuß. Der mit dem Luftgewehr auf Paparazzi schoss und gegen Bush demonstrierte, dem Italiens Steuerfahndung vor ein paar Monaten zwei Brillanten abnahm. Tags darauf glänzte ein neues Paar im rechten Ohr, Uhren trägt er immer zwei. Kürzlich biss ihm einer seiner Hunde ins Gesicht, lauter Maradona-Geschichten.

Als Weltmeister will er nackt um den Obelisken in Buenos Aires laufen, und niemand zweifelt daran, dass er es ernst meint. Der serbische Regisseur und Musiker Emir Kosturica widmete ihm ein Roadmovie, das mit seinem Witz und seiner Originalität bei jedem anderen gescheitert wäre. "Ein Diego sind zwei Pelés", stand beim Abschied aus Argentinien auf einem Plakat der Fans, und die Band Ratones Paranóicos, die Paranoiden Mäuse, singt in einem ihrer Lieder: "Ich will Diego sehen, dribbeln bis in die Ewigkeit."

Dribbeln bis in die Ewigkeit

Jetzt will Argentinien Messi dribbeln sehen, bis zum Titel. Alle Kandidaten hatten bislang beim Versuch versagt, Maradonas Nachfolger zu werden, auch Messi. Wobei Maradona erst mit 26 in Hochform kam, Messi ist 23. Beide hängen voneinander ab, für beide ist es eine Reifeprüfung, bei Maradona die zum Strategen und Pädagogen. "Mir fällt nur einer ein, der Messi stoppen kann, und das ist der Trainer Maradona", witzelte ein spanischer Journalist. Anfangs konnten die zwei nicht miteinander, unterdessen dreht sich Maradonas Projekt WM um Messi. Der Ästhet Maradona schwärmt: "Was macht man, um solche Perfektion zu erreichen? Du kannst Lio mit niemandem vergleichen. Du lässt den 20 Sekunden allein, dann zerstört der den Gegner. Er ist der beste Spieler der Welt." Der Taktik-Neuling Maradona warnt: "Wenn er sich nicht amüsiert, dann amüsieren wir uns alle nicht." Der ewige Underdog Maradona brummt: "Messi hat viel mehr Unterstützung als ich in Mexiko 1986." Barças früherer Coach Rexach sagt: "Nicht mal Maradona hat das Spiel so gut interpretiert. Messi sehen sogar die Blinden."

Auf einem Transparent stand es schon. "Messi, von welchem Planeten kommst du?", wie einst nach Maradonas Tor des Jahrhunderts. Argentinien wünscht sich ein neues Tor des Jahrhunderts, von Lionel Messi, bei dieser Weltmeisterschaft in Südafrika, mit Diego Maradona als Trainer. Victor Hugo Morales wird ins Mikrofon schreien, wenn Messi in der eigenen Hälfte den Ball bekommt und losrennt.

© SZ vom 12.06.2010/jbe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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