Newcastle United:Jeder für alle

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"Alles gegeben": Wenn sogar der ehemalige Hoffenheimer Joelinton (links, gegen Bukayo Sako) mit Hingabe grätscht, spricht das für den Teamgeist von Newcastle United. (Foto: Lee Smith/Action Images via Reuters)

Mit einem hart erkämpften 1:0 gegen das zuvor ungeschlagene Arsenal schließt Newcastle United zur Spitzengruppe der Premier League auf. Vor dem Duell mit Dortmund gehen Trainer Eddie Howe aber die Spieler aus.

Von Sven Haist, London

So ekstatisch hat Joelinton nach einem Zweikampf selten gejubelt. In der Nachspielzeit des Premier-League-Spitzenspiels zwischen Newcastle United und dem FC Arsenal antizipierte der offensive Mittelfeldspieler einen ungenauen Pass und spritzte ins Duell mit Gegenspieler Declan Rice. Durch Joelintons ebenso entschlossene wie präzise Grätsche berührte Rice am Ende den Ball, die Folge: Einwurf Newcastle - womit der letzte Angriff der Londoner in diesem Match abgewehrt war.

Die Newcastle-Fans im St. James' Park sprangen auf und beklatschten Joelinton überschwänglich. Der Brasilianer wiederum lief den Zuschauern ein paar Meter entgegen, ballte die Fäuste, riss den Mund auf und schrie die Freude hinaus. Dabei gehört das Defensivtackling nicht unbedingt zu seinen Vorzügen. In Zusammenschnitten sind überwiegend Dribblings von ihm zu sehen, bei denen er seine Athletik und Ballgewandtheit in Tore und Assists umwandelt.

Joelintons Einsatz stand exemplarisch für die momentane Bereitschaft aller Newcastle-Spieler, selbst der Individualisten, sich in das eigene Mannschaftsgefüge einzureihen. Mehr als zwei Minuten am Stück spielte die BBC in der Highlight-Sendung "Match of the Day" am Samstagabend verschiedene Ausschnitte ein, wie sich die United-Profis in der Verteidigung gegen Arsenal gegenseitig unterstützt und ihre Gegenspieler gedoppelt hatten. Immerzu war die Bereitschaft zu erkennen, auf dem Platz nicht nur Fußball zu spielen, sondern auch ausdauernd zu arbeiten. So abgestimmt, wie die Laufwege der Spieler wirkten, war anzunehmen, dass Trainer Eddie Howe dieses Vorgehen hatte einüben lassen.

Newcastles Belastbarkeit wird auf eine harte Probe gestellt, die Ausfallliste umfasst beinahe eine komplette Elf

Als Lohn stand ein selbstverständlich hart erkämpftes 1:0, erzielt durch Anthony Gordon in der 64. Spielminute, mit dem Newcastle nach zwei unnötigen Niederlagen gegen Manchester City und den FC Liverpool zu Saisonbeginn zur Spitzengruppe aufgeschlossen hat. Die Gründe dafür liegen in der Stabilität und der Geschlossenheit des Vereins. Beides überträgt sich auf die Mannschaft und wird speziell in der Abwehr sichtbar. Schon in der Vorsaison stellte der Klub die beste Defensive der Premier League. Und auch jetzt blieb United in den vergangenen sieben Ligamatches fünf Mal ohne Gegentor - obwohl das bis zum Newcastle-Spiel ungeschlagene Arsenal in jedem Pflichtspiel in dieser Saison getroffen hatte. Arsenals Torgarant Bukayo Saka kam gegen United gerade mal auf 0,02 zu erwartende Tore. Auch weil er immer wieder von Joelinton geschickt eingeengt wurde.

"Everyone gave everything", sagte der Brasilianer nach dem Spiel im Klub-TV, jeder habe alles gegeben. Mit dem Zitat erinnerte er an eine identische Liedzeile im Opus-Klassiker "Live is life", der von der Kraft des Augenblicks und des Zusammenhalts handelt. Darin heißt es mitunter, dass das Gefühl der Menschen das Gefühl der Band sei. Und ähnlich verhält es sich in Newcastle, wo sich der Tatendrang und der Enthusiasmus des Geordie-Volks auf das Betriebsklima des Fußballvereins überträgt. Torschütze Gordon fand, das Team beweise in jeder Partie, ein wirkliches Team zu sein. Egal wer auf dem Platz stehe, jeder kenne seine Aufgaben. Die Zeitung Telegraph kommentierte, United sei eine "fürchterliche Mannschaft", gegen die niemand spielen möchte: schnell, robust, zielstrebig und sehr ausdauernd.

Der erstaunliche Teamgeist basiert auf dem zugänglich wirkenden Trainer Howe. Fast genau vor zwei Jahren begann er seine Tätigkeit in Newcastle. Der Engländer formte mithilfe saudi-arabischer Millioneninvestitionen eine Elf ohne offensichtliche Schwäche. Das Team verfügt zugleich über Unbekümmertheit und Erfahrung, kann angreifen und verteidigen. Die Fähigkeiten der Spieler und der Mannschaftsteile ergänzen sich. Am meisten überzeugen Abwehrspieler Fabian Schär, wie Joelinton einst für Hoffenheim aktiv, und Taktgeber Bruno Guimarães.

Allerdings wird die Belastbarkeit des an sich ausgewogenen Kaders gerade auf eine schwere Probe gestellt. Denn die Ausfallliste von Newcastle nimmt fast die Größe einer Fußballelf an. Nach aktuellem Stand fehlen United neun Profis für das Champions-League-Auswärtsspiel bei Borussia Dortmund am Dienstag. Zu den ohnehin abwesenden Stammkräften - darunter Innenverteidiger Sven Botman, Offensivmann Harvey Barnes, Angreifer Alexander Isak sowie der wegen Wettverstößen gesperrte Mittelfeldallrounder Sandro Tonali - kommen seit dem Arsenal-Spiel Dan Burn (Rückenprobleme) und der gerade erst genesene Jacob Murphy (Schulter) hinzu. Insbesondere das Fehlen der Zugänge Tonali und Barnes (zusammen mehr als 100 Millionen Euro Ablöse), die auch wegen der Doppelbelastung im Europapokal geholt wurden, schränkt Howes Optionen stark ein.

Aufgrund der Personalmisere versucht Newcastle United noch mehr als sonst, den Teamgeist zu beschwören. Howe lässt fast keine Gelegenheit aus, um das Engagement der Spieler zu preisen und die Motivation hochzuhalten. Denn er ist sich wohl bewusst, dass seine Mannschaft eher keinen Ausnahmespieler in den eigenen Reihen hat, der ein mäßiges Match auch mal im Alleingang entscheiden kann. Stattdessen geht jedes Match ziemlich an die Substanz - auch wenn Siege wie gegen Arsenal große Emotionen auslösen.

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