Fußball-Nationalmannschaft:Auf der Suche nach der Urkraft

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Joachim Löw: Casting für die WM beginnt (Foto: dpa)

Drei Kraftwürfel im Tor, Rhythmusprobleme in der Abwehr, Promi-Sechser im Mittelfeld - Joachim Löw verschärft die Beobachtung seines potenziellen WM-Kaders. Mit welchem Personal wird der Bundestrainer ins Abenteuer Brasilien ziehen? Eine gut gewürzte Prognose.

Von Christof Kneer und Philipp Selldorf

Dieser Freitag brachte eine gute, eine schlechte und auch gar keine Nachricht für Joachim Löw. Die gute Nachricht: Bastian Schweinsteiger wurde von Trainer Pep Guardiola als "überragender Spieler" geadelt - nicht nur als Super-super- oder Top-top-Spieler wie alle anderen. Die schlechte Nachricht: Ilkay Gündoğan beklagte in einem Interview "die härteste Phase meiner Karriere", und es machte die Nachricht nicht besser, dass Gündoğan die Diagnose "Wirbelgleiten im Rücken" dementierte und durch "Nervenentzündung" ersetzte. Mögliche Rückkehr: theoretisch bald, wie seit Monaten - praktisch aber ungewiss.

Und die Nicht-Nachricht: Sami Khedira befindet sich nach seinem Kreuzbandriss weiter "auf einem guten Weg", wie der DFB stets verlautbart. Schweinsteiger, Gündoğan, Khedira - an diesen Namen werden zurzeit die Sorgen festgemacht, die den Bundestrainer vier Monate vor dem ersten WM-Vorrundenspiel plagen. Löw hat einen Top-top-Respekt vor der WM, er hat dafür extra den Begriff "Urkraft" in Umlauf gebracht, in dem alles mitschwingt, was die WM in Brasilien unberechenbar macht (Klimaunterschiede, Super-super-Entfernungen).

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Am Sonntag beginnt für Löw die letzte Etappe vor der WM. In London besichtigt er beim FA-Cup-Spiel des FC Arsenal seine Kandidaten Mesut Özil, Lukas Podolski und Per Mertesacker, am Dienstag sieht er Leverkusen gegen Paris St. Germain in der Champions League, am Tag danach sitzt er wieder in London, beim Achtelfinale Arsenal gegen Bayern. Löw will überprüfen, wem er beim Turnier vertrauen kann, er weiß ja: Er hat einen selten begabten Kader, aber er braucht auch Spieler, die den Urkräften trotzen. Und er weiß: Im Moment sind das weniger als erhofft.

Es geht dabei nicht nur um die großen Namen mit den großen Blessuren - viele kleinere Verletzungen, viele kleinere Pausen und viele kleinere Formschwächen haben sich zu einem Gesamtbild verdichtet, das bei einem Trainer durchaus ein nervöses Wirbelgleiten verursachen kann. Ein Überblick.

  • Tor

Im Tor steht einer, den die jedem Kind bekannte International Federation of Football History und Statistics, kurz: IFFHS, gerade zum Welttorhüter gekürt hat - inoffiziell, aber unwidersprochen. Bei Manuel Neuer weiß Löw auch ohne Beobachtung, was er hat: einen Torwart, der sämtliche Urkräfte in sich trägt und große, schwere Spiele liebt. Ist Neuer gesund, ist es top-top-egal, wer hinter ihm auf der Bank sitzt: René Adler, Roman Weidenfeller, Ron- Robert Zieler oder ein Engländer.

Der aktuelle Stand der Verfolger: Adler ist im Team nach wie vor als Könner anerkannt, hat aber neben seiner Neigung zu kleineren Blessuren ein größeres Problem: Er spielt beim HSV. Weidenfeller: Könnte Adlers Platz als Reserveroutinier bruchlos übernehmen. Zieler: War zuletzt auf seriöse Weise unsichtbar, keine Verletzungen, kaum Fehler. Engländer: War nur ein Witz.

Es gibt noch zwei weitere Keeper im Löwland, die alle Anlagen haben, um von der jedem Kind bekannten International Federation of Football History und Statistics, kurz: IFFHS, bald zum Welttorhüter gekürt zu werden: Marc-André ter Stegen und Bernd Leno. Einen kann Löw mitnehmen, nicht aber beide zusammen. Sie verstehen sich etwa so gut wie Natalie Geisenberger und Tatjana Hüfner. Zickenalarm.

Wertung: Der urkrafttauglichste Mannschaftsteil. Drei von drei Kraftwürfeln.

  • Abwehr

In diesem Mannschafsteil lassen sich all die kleinen Probleme erkennen, die das Potenzial haben, sich zum großes Problem auszuwachsen. Allein der Münchner Jérôme Boateng scheint über die meisten Zweifel erhaben zu sein, er spielt bei jenem Klub, den die IFFHS für die Jahre 2014 bis 2028 schon mal vorab als weltbesten Verein buchen kann. Aber schon der Name Mats Hummels steht stellvertretend für Löws Sorgen: Er ist nicht schwer verletzt, hat kein lädiertes Kreuzband, kein Wirbelgleiten, keine Nervenentzündung. Aber er kommt in der WM-Saison nur schwer in den Rhythmus, weil er immer wieder was hat, und immer wieder was anderes. Hummels erweist sich als würdiger Nachfolger des großen Christoph Metzelder, der auch immer Verletzungen hatte, die noch nie jemand vor ihm hatte. Im November zog sich Hummels einen knöchernen Bandausriss zu, zurzeit ist er wegen einer Stauchung und Bandzerrung im Bereich des Fußwurzelgelenks vom Sport befreit. Boatengs Nebenmann könnte Per Mertesacker werden, der zwar nach wie vor an seinen 198 Zentimetern Körpergröße laboriert, aber in England beweglicher geworden ist.

Wo Philipp Lahm spielt? Löw muss entscheiden, wo ihm sein Kapitän wichtiger ist: rechts hinten, als stabiler Faktor einer nicht immer stabilen Abwehr - oder im Mittelfeld, als stabiler Faktor einer nicht immer stabilen Elf. Spielt Lahm zentral, würden Benedikt Höwedes (zurzeit übrigens verletzt) oder Lars Bender rechts hinten verteidigen, beides keine Spezialisten. Für links hinten hat Löw Spezialisten, aber der eine (Marcel Schmelzer) ist wie Hummels auf Rhythmussuche, der andere (Marcel Jansen) spielt beim HSV. In der WM-Saison hat sich kein neuer Außenverteidiger aufgedrängt: Zwar gibt es seriöse Vertreter wie Frankfurts Sebastian Jung oder Dortmunds Kevin Großkreutz, aber keinen Kandidaten für die IFFHS. Bei Großkreutz geht Löw davon aus, dass er beim BVB ohnehin nur noch selten Außenverteidiger spielt - weil Lukasz Piszczek zurück ist. Und den kann er nicht nominieren: Er ist Pole.

Wertung: Anderthalb Urkraftwürfel, ohne Lahm. Mit ihm ca. zweieinviertel.

  • Defensives Mittelfeld

Schweinsteiger, Gündoğan, Khedira - die zentrale Sorgenposition (s.o.). Löws Perspektiven hängen stark von Pep Guardiola ab - gewährt er Schweinsteiger genügend Spielzeit, oder muss der Münchner mit siebeneinhalb Kurzeinsätzen zur WM? Löw wird sich auf dieser zentralen Position nicht ausschließlich Spieler leisten, die gerade erst fit geworden sind; dass alle drei Promi-Sechser im Kader stehen, ist also top-top-unwahrscheinlich. Das spricht für Lahm - den es ohnehin in die Zentrale zieht.

Ein seriöser Nachbar für Lahm (oder Schweinsteiger) wäre Leverkusens Lars Bender, der zurzeit aber so grau spielt wie schon lange nicht mehr; auch Zwillingsbruder Sven kommt zu selten dazu, so etwas wie Form zu entwickeln. Kurz vor der Form kommt gerne eine Verletzung dazwischen, eine Beule, eine Zerrung oder was Innovatives wie bei Hummels. In der Not könnte Löw wieder auf die Idee verfallen, Toni Kroos für die Defensive zweckzuentfremden, was dem Spiel durchaus gut tun kann - allerdings eher dem Spiel des Gegners.

Wertung: Drei Urkraftwürfel, wenn alle fit und in Form sind. Im Moment muss aber noch ganz schön viel Maggi dran.

  • Offensives Mittelfeld

Müller, Özil, Kroos, Götze, Reus - das klingt spektakulär, und das ist es auch. Müller spielt bei jenem Klub, den die IFFHS für die Jahre 2014 bis 2028 vorab als weltbesten Verein buchen kann, um Müller muss sich kein Mensch Sorgen machen. Ob man sich um die anderen Sorgen machen muss, könnte für den Ausgang dieses Turniers entscheidend sein: Sie können alle alles, haben die feinsten Füße der Welt - ob sie aber auch rauen Bedingungen, fanatischen Zuschauern und bösen Verteidigern trotzen? Dazu kommen Schürrle, Podolski, Draxler, Sam: zum Teil ohne Form, zum Teil ohne Praxis, zum Teil verletzt.

Serge Gnabry? Max Meyer? Maximilian Arnold? Geheimtipps, die noch viel zu jung sind - dafür fit und in Form.

Wertung: Theoretisch fünf von drei Kraftwürfeln. Aber URKRAFT-Würfel?

  • Sturm

Klose, Gomez, Gomez, Klose - der eine ist fast 36, der andere fast ohne Spielpraxis. Und Ersatzkandidat Max Kruse ist mit Gladbach ebenso ins obligatorische Formloch gerutscht wie Geheimtipp Timo Werner mit dem VfB Stuttgart.

Wertung: Klose trifft immer - aber was, wenn nicht? Dann droht der falsche Neuner (Özil, Götze, Schürrle). Und falsche Neuner haben alles, außer Urkraft. Maggi!

  • Fazit: Die schlechte Nachricht für Joachim Löw: Er hat nur noch vier Monate Zeit, um seine Asse gesund und in Form zu bekommen. Die gute Nachricht: Er hat noch vier Monate Zeit, um seine Asse gesund und in Form zu bekommen.
© SZ vom 15.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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