Fußball-EM:Italien hat Jogi zu Joachim gemacht

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Aus Erfahrung cool: Joachim Löw hat als Bundestrainer inzwischen alles erlebt. (Foto: REUTERS)

Vor vier Jahren vercoachte Joachim Löw das EM-Halbfinale gegen Italien. Ein Schlüsselerlebnis, danach wurde er zu einem anderen Trainer.

Von Christof Kneer, Bordeaux

Bundestrainer Joachim Löw ist viel gefragt worden in den vergangenen Tagen, nach Bastian Schweinsteiger, nach Thomas Müller, nach den Italienern sowieso. Irgendjemand wollte was über die medizinische Abteilung wissen, jemand anderes fragte nach der beachtlichen Anzahl an freien Tagen, die Löw seiner Mannschaft im EM-Quartier in Évian bewilligt, und natürlich kam irgendwann auch die offenbar unvermeidliche Wie-verbringen-Sie-eigentlich-den-freien-Tag-Herr-Löw-Frage. Herr Löw hat das alles nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet, auf Fußballfragen gab es bestimmte und auf persönliche Fragen unbestimmte Auskünfte, aber nichts davon war überraschend.

Löw ist kein Privatplauderer, er hat noch nie verraten, welches Buch auf seinem Quartiersnachtisch liegt, ob da überhaupt eines liegt, ob er Musik auf seinem iPod hat, ob er überhaupt weiß, was ein iPod ist. Löw käme es nie in den Sinn, ein heiliges Turnier durch Anekdötchen zu entwerten. In Turnierjahren taucht Löw immer im April oder Mai in seine Turnierwelt ab, alles, was nicht Turnier ist, lässt er draußen. Die EM in Frankreich ist Löws sechstes Turnier, sein fünftes als Cheftrainer, er kennt alle Regeln, Reflexe und Rituale. Diesmal allerdings ist etwas anders. Löw wird wie immer viel gefragt, aber die eine Frage fehlt.

Herr Löw, würden Sie nach einem Aus gegen XY zurücktreten?

Diese Frage hat bisher zu Turnier-Pressekonferenzen gehört wie der Espresso, den sie dem Bundestrainer in vorauseilendem Gehorsam auf sein Podium stellen. Diese Frage zu stellen, galt als schmutziger Job, aber einer musste ihn halt machen. Die Frage kam gerne um diese Zeit, irgendwann zwischen Vorrunde und Viertelfinale, und sie gründete auf dem nirgendwo niedergelegten, aber allseits akzeptierten Gesetz, dass deutsche Turniermannschaften Turniere nie vor der Zeit verlassen dürfen. Dass diesmal niemand fragte, dürfte zwei Gründe haben. Erstens: Weder Menschen noch Journalisten konnten sich vorstellen, wie diese Mannschaft zum Beispiel gegen die Slowakei ausscheiden sollte. Aber eben auch zweitens: Es kommt ja kaum ein Mensch mehr auf die Idee, diesen Trainer in Frage zu stellen.

Zurücktreten? Unser Jogi?? Der Weltmeister???

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An diesem Samstagabend, im EM-Viertelfinale, spielt nicht nur Deutschland gegen Italien, es spielt schon auch Joachim Löw. Der Mann, den zurzeit keiner mehr hinterfragt, hat scho' au noch eine Rechnung mit dem Schicksal offen, wie er das vermutlich sagen würde. Um zu begreifen, wie aus einem Jogi auf einmal ein Joachim wurde, muss man ihn noch mal vier Jahre zurückbegleiten, in die Nacht von Warschau. Es war die Nacht, in der Löw keine lustigen Fragen nach freien Tagen gestellt bekam, es ging insgesamt eher darum, ob er, der Bundestrainer, nicht bald ganz lang freihaben würde.

Seit dieser Nacht gehört es sozusagen zum historischen Fußballwissen, dass Löw das EM-Halbfinale gegen Italien "vercoacht" hat, wie das in der Fachsprache heißt. "Vercoacht" ist ein kleines, böses Wort, es ist wie ein Gaunerzinken, den ein Trainer auf der Stirn trägt und im Zweifel nie mehr los wird. So wird Pep Guardiola für seine Kritiker in München immer der Trainer bleiben, der im April 2014 das Halbfinale gegen Real Madrid vercoacht hat. Für die Kritiker hätte er diesen Stempel nicht mit der bekannt versierten Trainingsarbeit, sondern ausschließlich mit einem Champions-League-Sieg wegwaschen können, so wie Löw ihn mit dem Weltmeistertitel weggewaschen hat.

Wer die Nacht von Warschau noch mal zusammenfassen möchte, könnte das vielleicht so machen: "Die taktische Überlegung war, unser Mittelfeld zu verstärken, um Andrea Pirlo aus dem Spiel zu nehmen, aber im Nachhinein muss man sagen, dass der Plan nicht aufgegangen ist. Dafür muss ich die Verantwortung übernehmen."

Das hat Joachim Löw in dieser Woche in Évian gesagt, vier Jahre und eine EM später. Er hat auch gesagt, "dass jeder mal Fehler macht, auch Trainer", es könne passieren, "dass man sich mal verzockt". Das Wort "verzockt" hat er nicht selber in die Debatte geworfen, ein Reporter hatte es in seiner Frage verwendet, aber Löw hatte kein Problem, das Wort dann auch in seine Antwort einzubauen.

Auch deshalb ist dieses neue Spiel gegen Italien so wichtig: Zwar vermittelt Löw mit allem, was er tut, sagt und ausstrahlt, den Eindruck, als sei er längst über Warschau hinweg, als brauche er keine Satisfaktion und kein Duell im Morgengrauen. Aber er weiß auch, dass ein Sieg gegen Italien jenes letzte Zeichen wäre, das die Öffentlichkeit sehen will. Joachim Löw ist Weltmeister, aber das hat er noch nicht geschafft: die schlauen Italiener oder die lange verherrlichten Spanier in einem Turnier zu besiegen.

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Unabhängig vom Ausgang des Spiels gegen Italien am Wochenende lässt sich festhalten, dass der Löw, der dieses Viertelfinale coachen wird, ein anderer Löw ist als der, der das Halbfinale vor vier Jahren coachte. Wer einen Kronzeugen für diese Aussage sucht, der findet ihn in dieser Woche auf einem Pressepodium im Quartier der Deutschen in Évian, dort oben sitzt Joachim Löw und sagt: "Obwohl die Erfahrung damals schmerzhaft war, hat sie mir in meiner Entwicklung sehr geholfen. Sie war mir eine gute Lehre."

Joachim Löw wird seine Elf nicht mehr auf verkopfte Weise kleinmachen wie damals, er wird sich nicht mehr - wie bei Pirlo - dem besten Spieler des Gegners unterwerfen. Löw hat damals Thomas Müller und Marco Reus aus dem Team genommen und damit jegliches Tempo und jegliche Eigendynamik ausgewechselt, die das Team im Viertelfinale noch getragen hatten. Löw war die Welle nicht geritten, er hatte sie gebrochen. "Wir müssen unsere Stärken einbringen und versuchen, unseren eigenen Fußball durchzubringen", hat Löw in dieser Woche gesagt. Das ist die fachliche Lehre aus dem 1:2 von Warschau.

Das Warschau-Spiel war eine Art Erweckungserlebnis für diesen Trainer, zusammen mit jenem faszinierend naiven 4:4 (nach 4:0-Führung) gegen Schweden ein paar Monate später. Auch Löws Vertraute sagen, der Trainer coache seitdem straffer, er entscheide pragmatischer und lasse auch Dinge zu, die er bis dahin kaum zugelassen hatte - lange Bälle, Standardsituationen. Und seit der WM in Brasilien mischt sich die neue Haltung mit der Lässigkeit eines Weltmeister-Coaches, der nichts mehr beweisen muss und alles schon mindestens siebenmal erlebt hat. Die Verletzungen vor Turnieren, die kritischen Fragen zu seinem Turnierkader, die Formschwankungen in einer Vorrunde, die kurzen Pausen zwischen den Spielen, die langen Pausen zwischen den Spielen: Löw kennt das alles längst, und mit der Selbstgewissheit eines Routiniers arbeitet er sich inzwischen durch den Themenparcours. Der Bundestrainer ist aus Erfahrung cool geworden.

Inzwischen weist Löw auch schon übers eigene Land hinaus, immer häufiger verweisen Trainer anderer Länder auf diesen Weltmeistercoach und dessen imposante Amtszeit. Bislang galten Nationaltrainer vor allem als Zyklusarbeiter: eine Turnier-Qualifikation, dann das Turnier, und dann kommt vielleicht schon der Nachfolger.

Löws Weg illustriert nun den Wert von Kontinuität auch in dieser Spezialbranche: Für Löw war dieses Amt so etwas wie ein exzellent bezahlter Ausbildungsjob, er hat lernen und Fehler machen dürfen, er hat Erfolge gefeiert und Niederlagen erlitten. Und jetzt ist er der Weltmeistertrainer, der seinem Team Ruhe und Geborgenheit verleiht - mit seiner Routine und der unaufdringlichen Sympathie, mit der er etwa das Lebenswerk von Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski honoriert.

Und wenn es nun doch wieder schiefgehen sollte gegen den Angstgegner, wenn Löw vielleicht wieder eine Aufstellung wählt, die nicht jeder versteht? Vielleicht wird irgendein Reporter dann sogar wieder die Frage stellen, die eigentlich ja keiner mehr stellt: Herr Löw, darf ein deutscher Bundestrainer im Viertelfinale ausscheiden? Löw, der Routinier, wird wissen, was er antwortet, und erst recht wird er wissen, dass Reinhard Grindel, der neue DFB-Präsident, ihn unterstützt.

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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