Fußball-EM:Wie konnte Italien Pellè so lange übersehen?

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Eine der größten Entdeckungen der EM-Endrunde: Italiens fleißiger Stoßstürmer Graziano Pellè. (Foto: dpa)

Mit fast 31 Jahren hat es der Angreifer auf die große Bühne geschafft. Seine Karriere ist ein Lehrstück dafür, was in der italienischen Talentförderung falsch läuft.

Von Birgit Schönau

Man vergleicht ihn mit Luca Toni, der Länge wegen. Wenn ein 1,94 Meter großer Spieler Angreifer wird, nennt man ihn in Italien "la torre", so hoch und unbeweglich wie ein Turm. Gut für Kopfbälle, Strafstöße und Standards aller Art, die Arbeit außerhalb des 16-Meter-Raums übernehmen weitgehend andere. Aber Graziano Pellè ist trotz seiner Größe schnell und wendig, schließlich war er mal Turniertänzer. Aus jenem Ambiente, das dem Fußball so fern liegt wie die Sonne dem Planeten Neptun, scheint auch die Eleganz von Pellès Bewegungen zu stammen, seine lang ausgreifenden Schritte Richtung Tor, die Körperdrehungen, mit denen er den Ball erwischt.

Er erwischt ihn oft, er war mit zwei Treffern schon erfolgreicher als Zlatan Ibrahimovic und Robert Lewandowski, und spätestens nach seinem Siegtor gegen Spanien fragt sich die Fußballwelt: Woher kommt dieser Mann? Aus dem Nichts, scheinbar, ebenso wie sein Angriffspartner Eder. Der Italo-Brasilianer gab im März 2015 sein Debüt im Nationalteam, mit 28. Pellè war schon ein Jahr älter, als Antonio Conte ihn im Oktober 2014 zum Länderspiel gegen Malta berief. Und gleich machte er sein erstes Tor. Inzwischen sind es sieben in 16 Spielen.

Mit fast 31 Jahren steht Pellè zum ersten Mal auf der ganz großen Bühne. Und es scheint so zu sein, als habe er schon ewig für die Squadra Azzurra gespielt, derart selbstverständlich fügt er sich in Contes Mannschaft, in der niemand nur einfach seinen Job machen kann und schon gar nicht den der Angriffsdiva. Weswegen Graziano Pellè gegen Spanien oft vor der eigenen Abwehr zu finden war, "angesichts meines Körperbaus ist das ja auch nur logisch". Nicht logisch ist, nicht nur angesichts seines Körperbaus, dass das Vaterland den Spieler aus Apulien so lange übersehen hat. Schließlich ist er nicht gerade unauffällig.

Viele empfanden Pellès Berufung als Zumutung

Doch die Karriere des Graziano Pellè ist ein kleines Lehrstück darüber, was an der Talentförderung im italienischen Fußball falsch läuft - knapp 58 Prozent der Erstligaprofis sind Ausländer. Und auch ein Lehrstück darüber, wie wertvoll inzwischen Auslandserfahrungen für das Nationalteam sind. Es ist noch gar nicht so lange her, da galt ein Italiener, der in Deutschland, England oder gar den Niederlanden spielte, als nicht tauglich für die Azzurri. Nicht gut genug für die härteste Liga der Welt! Selbst Luca Tonis Einsatz für Bayern München wurde misstrauisch beäugt, doch die Zeiten haben sich dann schnell geändert. Jedenfalls für die Nationaltrainer. Medien und Fans empfanden Pellès Berufung als Zumutung.

Ein Stürmer vom FC Southampton! Ja, läuft denn zu Hause in der Serie A wirklich nichts Besseres herum? Und dann noch einer, der aussieht wie die Reinkarnation von Rodolfo Valentino selig. Keine einzige Tätowierung, dafür aber kiloweise Pomade in den nassgescheitelten Haaren. Ein Schönling und Tänzer . . . in einem Sport für echte Männer!

Dabei war für Graziano Pellè mit elf Jahren schon Schluss mit dem Turniertanz. Der Vater schickte ihn fortan zum Fußball, schließlich war Roberto Pellè selbst Fußballer gewesen, ein rustikaler Mittelstürmer in den unteren Ligen. Den Vornamen Graziano für seinen einzigen Sohn wählte der alte Pellè nach seinem Vorbild Ciccio Graziani, dem populären Stürmer aus dem Weltmeisterteam von 1982. "Bis in die vierte Liga hat es Papà geschafft", erzählt der Sohn, "aber wenn er erzählt, war er mindestens ein zweiter van Basten."

Auch Graziano wühlte sich durch das Unterholz der süditalienischen Fußballprovinz, von Lecce nach Catania, von Sizilien nach Kalabrien, bis er in Cesena von den Talentsuchern Louis van Gaals entdeckt wurde. 2007, mit 22 Jahren, wechselte Pellè zu AZ Alkmaar in die Niederlande. "Van Gaal fragte mich, ob ich einen Wunsch für die Trikotnummer hätte, und ich sagte: die 9. Aber die war schon vergeben. Also erbat ich mir die 99." Auf keinen Fall diese Extrawürste, blaffte Van Gaal, höchstens 29 oder 39. "Dann unterschreibe ich nicht", sagte der junge Italiener seelenruhig. Der Trainer sprang auf, tobte: "Was nehmen Sie sich heraus?" Und Pellé: "War doch nur Spaß." Er nahm die 29, blieb vier Jahre und wurde mit van Gaal und Alkmaar Meister.

Mit Eder spielte er kurzzeitig für den italienischen Verein Sampdoria Genua in der zweiten Liga, bevor er 2012 in die Niederlande zurückkehrte, diesmal zu Feyenoord Rotterdam. Zwei Jahre, 57 Spiele, 50 Tore. Dann rief die Premier League, der FC Southampton, kein Riesenverein, kein Riesenangebot, aber doch mehr weite Welt als die Niederlande. Seit 2014 lebt Pellè in der südenglischen Hafenstadt, er spricht mittlerweile ebenso gut englisch wie niederländisch, ein junger Italiener aus dem Mezzogiorno, der mit seiner Anpassungsfähigkeit und einer unbändigen Lernbereitschaft den Norden für sich erobert hat.

Vielen aus seiner Generation geht es so, keineswegs nur den Fußballern. Italien erlebt einen beispiellosen Brain Drain von jungen Akademikern, die ihr Land verlassen, weil ihnen zu Hause kein Job und keine Perspektiven angeboten werden. Früher waren es die Arbeiter, die gingen und im Ausland irgendwann eine Pizzeria eröffneten, heute sind es Archäologen, Ärzte und Ingenieure. Graziano Pellè, soviel ist sicher, spielt am Samstag auch in Namen jener Landsleute, die gehen mussten und nicht zurückkehren können. Der große Fußballklassiker Deutschland gegen Italien ist immer auch der Wettkampf zwischen dem prosperierenden Norden, der Zuwanderer aufnimmt, und dem siechen Süden, aus dem diese ausgewandert sind.

Pellè liefert Tore ohne Nachgeschmack

Ihn selbst zieht es gar nicht nach Italien, nicht jetzt. "Es geht ihm besser im Ausland", hat sein Vater erklärt. Da habe er sich durchgesetzt, und da wolle er auch bleiben. In England könnte Pellè jenen Kollegen wieder sehen, dessen Posten in der Nationalelf er jetzt besetzen darf: Mario Balotelli vom FC Liverpool. Vor vier Jahren hatte Balotelli Deutschland im EM-Halbfinale mit zwei Toren aus dem Wettbewerb katapultiert, unvergessen ist seine provozierende Siegerpose mit der trotzigen Präsentation des statuenhaft nackten Oberkörpers. Es hätte der Beginn einer großen Karriere werden können, stattdessen war Balotellis Zeit in der Squadra Azzurra nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2014 schon vorbei.

Der neue Trainer Antonio Conte übersah ihn geflissentlich. Zu aufsässig, zu exzentrisch, zu unzuverlässig. Stattdessen berief er den fünf Jahren älteren Pellè. Der Landsmann aus Contes Heimat Lecce liefert Tore ohne Nachgeschmack. Und wenn er gegen Deutschland trifft, dann bleibt er garantiert angezogen.

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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