Kommentar zu Frankreichs EM-Aus:Scheitern macht radikal, Gewinnen macht loyal

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Viel zu besprechen: Paul Pogba (links) und Didier Deschamps. (Foto: Vadim Ghirda/AP)

In Frankreich sagten sie bisher: Was Didier Deschamps anpackt, wird zu Gold. Doch nach dem frühen EM-Aus stellt sich die Frage: Ist der für kompromisslosen Pragmatismus berüchtigte Nationaltrainer zu milde geworden?

Von Claudio Catuogno

Wenn man den Satz zu Ende denkt, mit dem Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps sich selbst charakterisiert, dann wird das Scheitern seiner Elf gegen die Schweiz sogar noch universaler: "Ich habe Fußball nie des Spiels wegen gespielt", sagt der Mann, der die Équipe Française als Kapitän zum WM-Titel 1998 führte, "sondern immer des Gewinnens wegen."

Was "DD" anpackt, wird zu Gold: Es war auch diese Aura des geborenen Siegers, die Deschamps in Frankreich die nötige Unantastbarkeit verlieh für all die harten Entscheidungen, mit denen er Les Bleus ab 2012 wieder auf Kurs gebracht hatte. Deschamps habe "schon in seiner Kindheit eine fast pathologische Beziehung zum Siegen entwickelt", schreibt sein Biograf Bernard Pascuito. Doch jetzt hat Deschamps verloren - und die Frage ist: Was bleibt von einem Turnier, bei dem außer dem Gewinnen nichts zählte?

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Fragwürdige Entscheidungen und ein rätselhaftes System: Nach dem Aus gegen die Schweiz fragt sich Frankreich, warum Nationaltrainer Deschamps aus so viel Klasse so wenig Ertrag geschöpft hat. Eine prominente Alternative stünde schon bereit.

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Es wendet sich nun das gegen die Franzosen, was bei der WM vor drei Jahren noch als ihr Erfolgsgeheimnis galt: Deschamps' radikaler Pragmatismus. Natürlich hat man 2018 in Moskau versucht, das fußballerische Konzept hinter ihrem Triumph zu ergründen, aber von Deschamps waren dazu nur Sätze zu hören wie jener, man habe etwas "besser gemacht als alle anderen". Und auf die Frage, ob man mit Frankreichs Reservoir an Ausnahme-Talenten nicht schöner spielen könne, entgegnete Deschamps: "Sind wir ein schöner Weltmeister? Wir sind Weltmeister."

Ohne prägende Spielidee bleibt ein Fußballteam unter seinen Möglichkeiten - auch mit großartigen Einzelkönnern

Man kann Deschamps' Einfluss auf dem Weg dorthin kaum zu hoch einschätzen. Es waren seine Detailversessenheit und sein Fokus auf eine loyale, alle Eitelkeiten beiseite legende Gruppe, die Frankreich zurück unter die großen Fußballnationen führten. Als er das Amt übernahm, hat er ein eng beschriebenes Blatt mit Regeln vorgelegt, die bei ihm nicht verhandelbar sind. 2014 in Brasilien hat er jedem Spieler ein Exemplar der Alex-Ferguson-Biografie geschenkt. Ferguson, der Gewinner. Und, auch nicht unbedeutend in diesem politisch stets angespannten Land: Er hat Spieler unterschiedlichster Herkünfte und Prägungen hinter einem Projekt vereint.

Aber ein Fußballteam bleibt unter seinen Möglichkeiten, wenn die Idee des Gewinnens von keiner prägenden Spielidee flankiert wird. Von Spiel zu Spiel variierte Deschamps sein System, aber sehr viel mehr als der Plan, dank der Klasse von Mbappé, Griezmann, Benzema oder Pogba ab und an ein Tor zu erzielen, war nicht erkennbar. Es ist deshalb ein anderer Satz aus dem WM-Sommer, der nun helfen kann, Frankreichs EM-Scheitern zu erklären: "Wären wir 2016 Europameister geworden", sagte Deschamps damals, "wären wir jetzt nicht Weltmeister."

Mit anderen Worten: Erst der Schlag in den Nacken - Portugals Sieg im Pariser EM-Finale 2016 - war für Deschamps Antrieb und Rechtfertigung, seine Elf bis 2018 noch einmal neu zu erfinden. Scheitern macht radikal. Gewinnen? Macht loyal - und milde. In dieser Hinsicht ist Deschamps nun in eine altbekannte Falle gelaufen. Hätten Raphaël Varane oder Benjamin Pavard trotz Formkrise immer weitergespielt, wenn man nicht schon das Allergrößte miteinander erreicht hätte? Wäre Karim Benzema trotz Erpressungs- und Rassismus-Eklats begnadigt worden, wäre Adrien Rabiot zurückgeholt worden trotz mancher Verwünschung aus der Vergangenheit? Beim Deschamps des Jahres 2018 kaum, beim Deschamps des Jahres 2021 schon.

Spannend wird nun sein, was der Gewinner DD aus dieser neuen Form des Verlierens lernt - und ob er dazu überhaupt noch Gelegenheit bekommt.

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