Trainer Sylvinho führt Albanien zur EM:Ein Volksheld, der die Seelen berührt

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Hat die EM-Qualifiktion geschafft: Albaniens Nationalcoach Sylvinho. (Foto: Elena Covalenco/AFP)

Ein brasilianischer Trainer und zahlreiche Spieler aus Italiens Serie A: Die albanische Nationalelf schafft überraschend die Qualifikation für die EM in Deutschland - mit vier Siegen in sieben Spielen.

Von Thomas Hürner

Glück ist ein flüchtiges Gefühl, aber mitunter tritt es so stark auf, dass davon etwas bleiben kann. Für lange Zeit, vielleicht für immer. So jedenfalls wurde in Albanien rezipiert, was sich am Freitagabend zutrug, von einem historischen Ereignis war die Rede. Kein Zweifel: Sollte Glück eine Erscheinungsform haben, es dürfte in etwa so aussehen.

Albaniens Fußball-Nationalteam spielte 1:1 in der Republik Moldau, die Partie war eher bieder, doch ihre Wirkung gewaltig. Durch den Punktgewinn gelang die Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland, es ist das erst dritte Kontinentalturnier überhaupt für das kleine Land. Und das sah man auch: auf den Straßen der Hauptstadt Tirana überall jubelnde Menschen, dazu ein Meer aus roten Flaggen mit dem doppelköpfigen Adler vorne drauf. Es waren Bilder, deren Urheberschaft insbesondere einem Mann zugeschrieben wird: Sylvio Mendes Campos Júnior, kurz Sylvinho. Seit gerade mal elf Monaten coacht der Brasilianer das Nationalteam Albaniens, er hat einen Vertrag bis Sommer 2024. Die kurze Vertragslaufzeit offenbart eine klare Zielsetzung: Sylvinhos Mission ist die EM in Deutschland, darin waren sich Verband und Trainer sofort einig - wie das gelingt, was danach kommt, das war erst mal nebensächlich.

Als Spieler war Sylvinho einer fürs oberste Regal - als Trainer tat er sich dagegen lange schwer

Die Hürde wurde also genommen, und Sylvinho, 49, steht nun nahezu im Rang eines Volkshelden. Seine Beliebtheitswerte waren schon vor Vollendung des ambitionierten Auftrags hoch. Der Coach weiß, wie man Fan-Herzen bezirzt, nach dem Spiel in Moldau etwa ging er einmal rund ums Stadion und klatschte mit den albanischen Fans ab. "Wir spielen, um zu gewinnen", sagte Sylvinho: "Aber vor allem spielen wir, um die Seelen der Albaner zu berühren." Solche Sätze kommen gut an im Volk. Und dann wäre da noch seine Biografie: Sylvinho spielte unter anderem beim FC Barcelona und Manchester City, er hat zweimal die Champions League gewonnen und war ein Linksverteidiger fürs oberste Regal. Für Albanien, ein Land mit weniger Einwohnern als Berlin, wirkt sein Name fast überlebensgroß.

Das liegt auch an der Bedeutung, die der Fußball für die Albaner hat. Sport war ein Hebel des sozialistischen Diktators Enver Hoxha, um sich in den 1960er-Jahren von der Sowjetunion zu lösen, damals ein ideologischer Verbündeter Albaniens. Hoxha ordnete höchstpersönlich an, dass albanische Klubteams ihren Boykott aufheben und an Uefa-Wettbewerben teilnehmen sollten. Die Sowjets waren damit in ihrem Boykott isoliert. Für die Albaner ist Fußball seitdem ein kleiner Akt der Selbstbehauptung geblieben, wenngleich ohne größere Erfolge: Mehr als ein EM-Achtelfinale 1964 war bislang nicht drin.

Sylvinho wusste bei Amtsantritt, dass er sich auf ein schwieriges Unterfangen einlässt, doch auch er selbst hatte bis dahin keine nennenswerten Meriten als Coach angehäuft. Er war Co-Trainer der brasilianischen Nationalelf und von Roberto Mancini bei Inter Mailand; seine Zeit als Chefcoach bei Corinthians São Paulo und Olympique Lyon verlief dürftig. Als albanischer Nationalcoach konnte er nun so manches Vorurteil entkräften, durch einen attraktiven Spielstil, emotionale Ansprachen und vor allem: durch Ergebnisse. Vier der sieben Qualifikationsspiele haben die Albaner gewonnen, nur eines ging verloren. Vor dem letzten Gruppenspiel an diesem Montag gegen die Färöer stehen sie auf dem ersten Tabellenplatz, vor den favorisierten Teams der Tschechen und Polen, die in den direkten Duellen jeweils niedergerungen wurden.

Albanische Fußballer spielen gerne in der italienischen Serie A

Nun ist es aber auch nicht so, dass es bei den Albanern keine fähigen Fußballer gäbe, im Gegenteil. Etwa die Hälfte des Teams spielt in der italienischen Serie A, was kein Zufall ist, denn die beiden Länder haben historisch gewachsene Beziehungen; eine große albanische Diaspora lebt im Süden Italiens. Ein Wechsel nach Italien ist für albanische Profis oberstes Karriereziel - und italienische Klubs holen sie gerne, weil sie deren temperamentvolle Spielweise und Ballfertigkeit schätzen. Torwart Etrit Berisha (FC Empoli) und Rechtsverteidiger Elseid Hysaj (Lazio Rom) spielen seit vielen Jahren in der Serie A, der Abwehrchef Berat Djimsiti ist vor der Saison zu Atalanta Bergamo gewechselt. Sie bilden die Defensivachse, vor der sich ein paar feine Füße austoben dürfen: Ylber Ramadani (US Lecce) und Nedim Bajrami (US Sassuolo) sind hier zu nennen, doch der brillanteste Akteur ist sicher Kristjan Asllani vom Spitzenklub Inter Mailand. Der 21-Jährige war nicht billig, zehn Millionen hat sich Inter ihn 2022 kosten lassen, er war aber zunächst ein Versprechen ohne Sichtbarkeit in der Gegenwart. Inzwischen kommt er regelmäßig als regista zum Einsatz, als Stratege vor der Abwehr - eine der höchsten Ehren in italienischen Teams.

"Wir haben es geschafft", rief Asllani nach dem Spiel in ein TV-Mikro, "wir sind ein kleines Land, das Großes erreicht hat. Das ist vor allem das Verdienst unseres Mister." Mister, so nennen sie in Italien ihre Trainer: Sylvinho also hat seine Mission erfüllt. Und die Albaner spüren, dass Glücksgefühle so flüchtig gar nicht sind.

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