Christopher Nkunku:Der Grenzenverschieber

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Feiner Fuß: Christopher Nkunku. Leipzig und die Bundesliga haben ihm die Mittel zur Verfügung gestellt, um zu einem der besten Spieler Europas zu reifen. (Foto: Motivio/Imago)

35 Tore und 20 Vorlagen in 52 Pflichtspielen im Kalenderjahr: Leipzigs Christopher Nkunku war 2022 der herausragende Akteur der Bundesliga - und dürfte nun zum FC Chelsea wechseln.

Von Felix Haselsteiner

Als RB Leipzig am 21. Mai 2022 den ersten Titel der Vereinsgeschichte gewann, dauerte es nicht lange, bis der Fußball in den Hintergrund rückte. Die Bilder, die vom Pokalfinale 2022 in Erinnerung bleiben, zeigen Brausedosen, die in den DFB-Pokal gekippt wurden. Die Worte, die geblieben sind, sind die des damaligen Geschäftsführers Oliver Mintzlaff, der den Leipzig-Anhängern von einem Feierlastwagen aus damals zurief: "Wer immer noch nicht kapiert hat, dass wir eine Bereicherung für Fußballdeutschland sind, dem wollen wir gar nicht mehr helfen."

Einer der Protagonisten, die Spiele mit Leipziger Beteiligung in den vergangenen Jahren tatsächlich zu einer Bereicherung für die Bundesliga gemacht haben, stand da erstaunlich wenig im Fokus. Es wäre auch unpassend gewesen für Christopher Nkunku, sich nach dem Pokalsieg auf Instagram oder sonstigen Plattformen an der Spitze einer Leipziger Mannschaft zu positionieren. Der 25-Jährige ist ein stiller Beobachter, ein ruhiger Mensch. Auf der Leipziger Feier in Berlin im Mai saß er längere Zeit etwas abseits des Trubels, während die anderen auf der Bühne zu lauter Musik feierten, so berichten das Anwesende. Fußballfelder, nicht Vereinsfeiern, sind für Nkunku die Bühnen, und er bespielt sie besser als jeder andere in Leipzig - womöglich besser als jeder andere Spieler in Deutschland.

Kein Bundesligaspieler erreicht Nkunkus phänomenale Statistik

Sechs Stimmen Vorsprung vor Robert Lewandowski hatte Nkunku bei der Wahl zum Spieler der Saison 2021/22, die der Kicker im Juni abhielt. Wie repräsentativ solche Einzeltitel im Fußball sind, ist zu hinterfragen, aber die Wahl basierte auf einer beachtlichen Faktenlage, insbesondere wenn man diese bis zum Jahresende erweitert: 35 Tore und 20 Vorlagen in 52 Pflichtspielen, so lautet Nkunkus Bilanz in diesem Kalenderjahr. Kein Bundesligaspieler kommt an diese Statistik heran, aber auch kaum ein internationaler Konkurrent, weshalb die eigentlich berechtigte Einzeltitelfrage lautet: Wie konnte Nkunku bei der Wahl zum Weltfußballer nur auf Platz 25 landen?

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Es hätte womöglich noch mehr große Auftritte auf der internationalen Bühne gebraucht, die Nkunku nicht nur bei Leipzigs teils desolaten Vorrundenpartien in der Champions League, sondern auch bei der Fußballweltmeisterschaft verwehrt blieben: Ein Außenbandriss im linken Knie verhinderte eine Reise zur WM nach Katar, bei der französischen Nationalmannschaft spielten im WM-Finale in Marcus Thuram und Randal Kolo Muani ein Gladbacher und ein Frankfurter - aber kein Leipziger.

Zu klein, zu zerbrechlich - so lautete das Verdikt über den jungen Franzosen

Ein Rückschlag, mit dem Nkunku umgehen kann, so wie er das in seiner gesamten Laufbahn stets bewies. Als Jugendlicher wurde ihm gesagt, er sei zu "klein und fragil", erzählte Nkunku im Frühjahr der L'Équipe in einem seiner wenigen Interviews. Andere hätten danach womöglich resigniert, er hingegen nahm es als Motivation, weiter an sich zu arbeiten: "Das ist mein Ziel: mir selbst zu beweisen, dass ich mein Niveau steigern kann. Es wäre ein Fehler, anderen die Schuld zu geben."

Dabei wäre das durchaus möglich gewesen, damals, als er bei Paris Saint-Germain ein Jahr lang zwischen dem U19-Team und der Profimannschaft hin- und herwechseln musste, anstatt gezielt auf höchstem Niveau Einsätze zu erhalten. Nkunku verließ Paris 2019 für eine Ablösesumme von 13 Millionen Euro in Richtung Leipzig, er nahm Wünsche des damaligen Trainers Thomas Tuchel mit auf den Weg. Tuchel förderte Nkunku, die größte Entwicklung kam jedoch an der neuen Wirkstätte durch die Akribie von Julian Nagelsmann zustande, der in dem Franzosen mehr erkannte als nur einen zentralen Mittelfeldspieler. Videoanalysen mit Nagelsmann hätten außerordentlich hohes Niveau gehabt, erzählte Nkunku: "Er sagte mir, okay, du hattest eine gute Position, aber die beste Position war zwei Meter weiter rechts."

Während der Klub unter Nagelsmanns Nachfolger Jesse Marsch eine schwierige Phase durchlebte, blühte Nkunku auf, weil Marsch ihn als Stürmer aufstellte, auf der Position also, auf der er seitdem in Leipzig spielt und mehr Einfluss nehmen kann als zuvor - unabhängig vom Trainer. Marsch, Domenico Tedesco und Marco Rose setzten allesamt auf unterschiedliches Personal, aber stets mit der klaren Ausrichtung, Nkunku Freiräume in der Offensive zu schaffen. Dieser passte seine Spielweise daran an - und seinen Körper. Krafttraining für mehr Durchsetzungsfähigkeit etwa sei ein Baustein gewesen: "Das ist kein Zufall", sagte er, "ich habe dafür gearbeitet" - für Tore wie das 1:1 im Pokalfinale, das Nkunku nicht mit feinem Fuß erzielte, sondern im Stile eines instinktiven Neuners am langen Pfosten.

Mit Wucht und Wille: Im DFB-Pokalfinale gegen den SC Freiburg rauscht Christopher Nkunku unhaltbar zum 1:1-Ausgleich heran. (Foto: Laci Pereny/Imago)

Leipzig sei "mehr als eine Durchgangsstation", sagte Nkunku mal. Seine zurückhaltende Art bei Feiern sollte man nicht mit fehlender Dankbarkeit verwechseln. Leipzig und die Bundesliga haben ihm die Mittel zur Verfügung gestellt, um zu einem der besten Spieler Europas zu reifen - jedoch: Die spielen außerhalb Münchens nicht dauerhaft in Deutschland.

Dem Transferexperten Fabrizio Romano zufolge gilt das auch für Nkunku. Er sagt, die Verträge zwischen Nkunku, dessen Berater Pini Zahavi und dem FC Chelsea seien für die kommende Saison bereits ausverhandelt, nur die offizielle Bestätigung des Transfers stehe noch aus. Der Fußballstandort London hat längst nicht für alle Bundesligaspieler funktioniert, Timo Werner kann in Leipzig davon berichten, als welch hartes Pflaster sich die Stamford Bridge für Neuankömmlinge erweisen kann.

Nkunku allerdings hat sich in seiner Karriere oft an ein neues Umfeld oder eine neue Position angepasst, er sieht darin die Geschichte seiner Laufbahn: "Wenn ich aufhöre, will ich mir sagen können: Okay, nichts zu bedauern, ich habe all meine Grenzen verschoben."

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