Sportbücher:Cruyff in der Telefonkabine

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Genie am Ball: Johan Cruyff fand immer seine Räume - und wie im WM-Spiel am 26. Juni 1974 gegen Argentinien (4:0) den Weg zum Tor. (Foto: STF/AFP)

Siebzigerjahre, Entspannungspolitik - und eine Poolparty mit Folgen für die niederländische Fußball-Nationalmannschaft. Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp erklären die legendäre Weltmeisterschaft 1974 in ihrem zeithistorischen Zusammenhang.

Von Holger Gertz

Schon der orange-schwarze Einband lässt erahnen, dass es die niederländischen Genies sind, denen in diesem Buch besonderer Raum reserviert wird. "Oranje boven" sozusagen. Es gibt schließlich noch viel Unerzähltes zu erzählen über die legendäre Fußball-Weltmeisterschaft 1974, bei der die legendären Niederländer, angeführt vom legendären Meisterspieler und Kettenraucher Johan Cruyff, nicht Weltmeister wurden, obwohl sie die beste Mannschaft waren. Und dass sie nicht Weltmeister wurden, soll schließlich auch mit ihrem Teamquartier zu tun gehabt haben, dem ebenfalls und erst recht legendären Waldhotel Krautkrämer in Münster-Hiltrup.

Wo ein paar Tage vor dem WM-Finale eine Poolparty stattgefunden hat, mit den Oranje-Helden Cruyff, Rensenbrink, Schrijvers, mehreren Hiltruperinnen und auch dem Reporter Guido Frick, der sich - man mag es kaum glauben - getarnt als schwäbischer Spätzle-Vertreter Zugang zum Hotel verschafft hatte. Dieser Reporter brachte die Story, die Bild griff sie auf und posaunte die Geschichte von der Nacktparty so marktschreierisch heraus, dass auch Cruyffs Frau Danny daheim davon Wind bekam. Cruyff beschäftigte sich in den Tagen vor dem Endspiel also nicht mit seinem Gegenspieler Berti Vogts, sondern mit seiner aufgebrachten Gattin, die er telefonisch zu besänftigen versuchte.

Cruyff hat die heraufdämmernde Ehekrise danach zwar immer dementiert, aber dass es bei Krautkrämer gegenüber der Rezeption eine Telefonkabine gab, ist überliefert, wie auch das Zitat von Cruyffs mitfühlendem Teamkollegen Johnny Rep: "Johan stand schweißgebadet in dem kleinen Kasten."

Und dann noch die ganzen Zigaretten: Keine optimale Vorbereitung auf ein WM-Finale, bei dem König Johan, der Gestresste, dann auch deutlich unter seinen Möglichkeiten blieb.

Mehr Demokratie wagen - das galt auch für Bundestrainer Helmut Schön und seine Nationalmannschaft

Die Autoren Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp, Intimkenner des Fußballs, fächern hier die Geschichte der Weltmeisterschaft 1974 auf, betten sie in den zeithistorischen Zusammenhang, beleuchten die WM-Spiele, aber auch die Geschehnisse in Gesellschaft und Politik. Sie haben Archive durchforstet, mit Zeitzeugen gesprochen, sie erkennen das Große im Kleinen, und dass auch Bernd-M. Beyer mitgearbeitet hat, bereichert das tagebuchartig strukturierte Werk. Beyer, Autor einer hervorragenden Biografie des früheren Bundestrainers Helmut Schön, hat bereits die Spielzeit 1971/72 als "Saison der Träumer" porträtiert. Das 74er-Buch jetzt passt in diese Reihe moderner, populärer Geschichtsschreibung, die erklärt, wie die Dinge auf dem Platz mit denen neben dem Platz zusammenhingen und immer noch -hängen.

Dass etwa der Bundestrainer Schön, wie gern behauptet wird, bei der WM 1974 nach der Niederlage gegen die DDR und der Aussprache in der "Nacht von Malente" von Kapitän Beckenbauer entmachtet worden sei, ist eine offenbar sehr zugespitzte Version der Ereignisse. Tatsächlich waren die Siebziger eine Zeit, in der das Diktum Willy Brandts programmatisch über allem stand: "Mehr Demokratie wagen". Das wollten sie auch in der Nationalmannschaft. Der sensible, aber im Team respektierte Trainer Schön setzte auf einen demokratischen Führungsstil, er diktierte nicht, er diskutierte. Auch deshalb verlor er, wie man heute sagen würde, nicht die Kabine, und sein Anteil am WM-Titel war insgesamt erheblicher, als gemeinhin behauptet wird.

Siebzigerjahre, Entspannungspolitik: Chauvinistische Einlassungen aller Art waren verpönt. Die Mannschaft stand nicht, wie die Weltmeister 1954, für die Gründung einer neuen, friedlichen Nation. Sie symbolisierte nicht, wie die Weltmeister 1990, das wiedervereinigte Land, sie repräsentierte nicht, wie die Weltmeister 2014, die multikulturelle Berliner Republik. "Der WM-Titel von 1974 ist kein Projekt, das sich politisch ausbeuten lässt", schreiben Schulze-Marmeling und Dahlkamp. Die Schwere, mit der in der Gegenwart über die Identität der Nationalmannschaft geredet wird, gab es damals nicht.

Wobei die Autoren sich an keiner Stelle auch nur ansatzweise zur simplen Aussage hinreißen lassen, dass früher alles besser war. Es - also das Leben - ist kompliziert, und es war auch damals in den scheinleichten knallbunten Siebzigern kompliziert, das Waldhotel Krautkrämer kann es bezeugen. Denn die badefreudigen Hiltruperinnen, die Sause im Hotelpool und die Berichterstattung darüber wurden von einigen im Team der Niederlande als orchestrierte Kampagne verstanden. Trainer Rinus Michels: "Erst wurden wir auf den Favoritenthron gehoben. Jetzt will man uns nervös machen und stürzen." Die Irritation ging tief, der Zweite Weltkrieg war noch nicht allzu lange her, Michels hatte die deutsche Besatzung selber erlebt. Vor dem Finale weigerte er sich, Deutsch zu sprechen, und erklärte auf Niederländisch: "Im Moment gibt es Krieg, und Krieg ist Krieg. Sonntag nach dem Spiel herrscht wieder Friede."

Und so ist es dann ja auch gekommen.

"1974: Die WM der Genies", Verlag Die Werkstatt, 350 Seiten - 29,90 Euro

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