Sieben Kurven der Formel 1:Hamilton betrügt seinen Instinkt

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Der Weltmeister ärgert sich über die Taktik. Mick Schumacher bekommt viel Lob, Sebastian Vettel tritt als Botschafter auf und Ferrari sorgt für Lacher. Die Höhepunkte des Formel-1-Wochenendes.

Von Elmar Brümmer

Valtteri Bottas

(Foto: Glenn Dunbar/Motorsport/Imago)

Übers Kaffeetrinken lässt sich prima mit dem Finnen reden, er soll darin so gut sein, dass er nicht nur von Freundin Tiffany als Barista geschätzt wird. Über Rennsiege ließ sich mit ihm eher weniger gut reden, 378 Tage lag der letzte zurück. Jetzt hat er Grand-Prix-Sieg Nummer zehn auf dem Konto, theoretisch könnte er sogar noch Weltmeister werden. Praktisch aber hat der Mann, der nach Saisonende zu Alfa Romeo wechseln wird, eher zur Schadensbegrenzung in Lewis Hamiltons Duell mit Max Verstappen beigetragen. "Zehn von zehn möglichen Punkten bekommt er von mir für diese Leistung", sagt Mercedes-Teamchef Toto Wolff über die tadellose Fahrt des Finnen, der die Pole-Position von Hamilton nach dessen Strafversetzung geerbt hatte und am Ende mit 14,5 Sekunden Vorsprung ins Ziel kam. "Es war eines der besten Rennen, die ich je hatte", bestätigt Bottas über den Booster fürs Selbstvertrauen, "ich hatte alles unter Kontrolle." Sonst ist er ja meist der, der kontrolliert wird.

Lewis Hamilton

(Foto: Umit Bektas/AFP)

Die Debattenkultur bei Mercedes ist eine besondere, selbst bei gegenteiligen Ansichten eine eher harmonische. Doch diesmal haben Fahrer und Ingenieur, namentlich Lewis Hamilton und Peter "Bono" Bonnington, einen Tick zu häufig geredet und vermutlich ein wenig zu spät gehandelt. Sonst wäre der fünfte Platz vielleicht ein vierter gewesen oder gar ein dritter, also eine noch bessere Schadensbegrenzung. Doch dazu hätte Hamilton wohl schon in Runde 41 von 58 reinkommen müssen und nicht erst neun Umläufe später. Doch selbst da war sich der Fahrer sicher, dass er hätte durchfahren können: "Meinem Bauchgefühl nach hätte ich draußen bleiben sollen. Ich bin deshalb frustriert, nicht meinem Instinkt gefolgt zu sein." Die Mercedes-Taktiker aber prognostizierten einen baldigen Reifenschaden.

Den Frust des Akteurs, der sich unter den schwierigen Bedingungen tapfer von Startrang elf nach vorn gekämpft hatte, kann man nachvollziehen: "Du hast schon den zweiten Platz in Sicht, und dann bist du wieder Fünfter." Obwohl der verlorene Poker ihn auch noch Stunden nach dem Rennen sichtlich nervte, behauptete der Titelverteidiger: "Ich fühle keinen Druck, ich bin völlig entspannt." In der Formel 1 ist seit 24 Jahren kein Pilot mehr ein Rennen auf einem Reifen durchgefahren. Erlaubt ist das heute ohnehin nur bei Regen. In Istanbul gebührt dieses Kunststück dann allein Esteban Ocon, der mit dem Alpine nach 58 Runden auf Rang zehn landete.

Max Verstappen

(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Sechs Punkte Führung bei noch sechs ausstehenden Rennen, das ist bestenfalls ein Pölsterchen für den WM-Spitzenreiter. Aber immerhin. In den beiden Formel-1-Rennen, in denen die Titelfavoriten jeweils durch Strafen für Motorenwechsel gehandicapt waren, konnte Verstappen im Bunde mit launischen Wetterverhältnissen aus einem Rückstand einen Vorsprung machen. Im Istanbul Park ist das dem Niederländer mit einem der unspektakulärsten Rennen seiner Karriere gelungen. Er scherzte sogar: "Am schwierigsten war es, mich wach zu halten." Auf Platz zwei gestartet, als Zweiter ins Ziel gekommen, mehr war nicht drin: "In keiner Phase hätte es Sinn ergeben, Valtteri Bottas anzugreifen." Eine vornehme Zurückhaltung, nachdem ihn Teamchef Christian Horner zuvor mit der Mentalität des neuen Box-Champions Tyson Fury geködert hatte: "Wir alle müssen dessen Energie an den Tag legen. Er soll ja auch ein großer Fan von Max sein ..." Immerhin, eine Zeit lang musste der 24-Jährige dann doch kämpfen - mit einem Lenkrad am Red-Bull-Honda, das etwas aus dem Lot geraten war.

Michael Andretti

(Foto: Joe Portlock/Motorsport/Shutterstock/Imago)

Mit der Formel 1 hat der Mann, der im US-Rennsport als Legende gilt, noch eine Rechnung offen. 1993 war Michael Andretti von McLaren verpflichtet worden, um in die Fußstapfen seines Vaters Mario zu treten, dem Weltmeister von 1978. Doch Andretti Junior kam mit der europäischen Fahrweise und den Autos nicht so richtig klar, weshalb er nach 13 Rennen und nur einem dritten Platz auch wieder nach Hause geschickt wurde. Jetzt, mit 59, könnte er ein ungeahntes Comeback feiern. Ein Indycar-Team und ein Formel-E-Rennstall gehören ihm schon, nun greift er nach der Mehrheit von Sauber Motorsport. Das Schweizer Team, früher Partner von Mercedes und BMW, fährt derzeit unter den Farben von Alfa Romeo, gehört aber den schwedischen Erben des Tetra-Pak-Imperiums. Andretti führt eine Investorengruppe an, die offenbar 350 Millionen Euro für 80 Prozent der Anteile bietet. Ein US-Team im Rennen würde zur Expansionsstrategie der Formel 1 in Nordamerika passen.

Mick Schumacher

(Foto: Francois Flamand/PanoramiC/Imago)

Schlecht gelaunt erwischt man die deutsche Nachwuchshoffnung in der Formel 1 selten. Selbst dann nicht, wenn aus einem unter schwierigen Bedingungen stark herausgefahrenen 14. Startplatz am Ende nur wieder der angestammte Platz als Vorletzter wird. Früh schon brachte Schumacher ein Rempler von Fernando Alonso um alle Chancen, für den der Spanier nicht nur bestraft wurde, sondern sich auch sofort entschuldigte und Schumacher dazu umarmte. "Ich nehme wieder viel Positives mit", sagt er tapfer nach der Enttäuschung. Ein kleiner Trost, dass er in Auftritt und Ergebnis mal wieder Welten vor seinem Haas-Teamkollegen Nikita Masepin lag. Und die große Hoffnung, dass es bis zum Saisonende dann doch noch klappt mit den ersten WM-Punkten. Rennstallchef Günter Steiner ist jedenfalls voll des Lobes für seinen Auszubildenden: "Ein Ergebnis wie das im Qualifying hilft mit, bei uns allen bis zum Jahresende die Motivation hochzuhalten. Mir gefällt an Mick, wie ruhig er bleibt, und wie er auf den Punkt fährt."

Sebastian Vettel

(Foto: HochZwei/imago)

Spannend macht es der viermalige Weltmeister auf der Strecke in letzter Zeit eher selten. Sein Aston Martin ist nicht nur von der Farbe her eher das, was in Rennfahrerkreisen gern "Gurke" genannt wird. Die schlecht abtrocknende Piste in der Türkei half dabei nicht. Vettel versuchte es mit dem Mut der Verzweiflung: Als Einziger wechselte er von Allwetterreifen auf Slicks - und wurde für sein Risiko durch zwei Dreher, einer davon in der Boxeneinfahrt, bestraft. Am Ende blieb Rang 18, aber wen interessiert der schon. Vielmehr gilt das wachsende Interesse den Botschaften des Heppenheimers. Seine politischen Präferenzen hat er als Befürworter eines generellen Tempolimits auf Autobahnen zu Protokoll gegeben, jetzt dankte er auch ausgiebig der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel: "Sie war eine große Führungspersönlichkeit, sie musste sehr schwierige Zeiten durchmachen." Mit einem bunt bemalten Renn-Helm machte er auf die Verschmutzung der Meere aufmerksam, dementsprechend trug er auch bei der Parade vor dem Start ein T-Shirt mit der Aufschrift "Wasser ist Leben". Der Regen, der es ihm später so schwer machte, war damit garantiert nicht gemeint.

Ferrari

(Foto: Peter Fox/Getty)

Vierter und Achter, das ist nach den aktuellen Maßstäben in Maranello zwar kein ganz gutes Ergebnis, aber eben auch kein ganz schlechtes. Carlos Sainz, der Achte, kam immerhin nach einer grandiosen Aufholjagd vom allerletzten Startplatz aus noch in die Punkte. Die Fans wählten ihn zum "Fahrer des Tages". Charles Leclerc, der Vierte, hatte das Rennen allerdings zwischenzeitlich angeführt. Zusammen gibt das rein rechnerisch einen ordentlichen Erfolg. Im Kampf um Platz drei gegen McLaren hat die Scuderia zehn Punkte aufgeholt. Ein verpatzter Reifenwechsel hier, eine falsche Reifentaktik da - im Idealfall wäre da noch weit mehr drin gewesen. Immerhin bleibt neben all den Debatten über die Beschaffenheit der Gummis ein anderer Spruch aus dem italienischen Boxenfunk als Lacher des Rennens. Leclerc, der im letzten Drittel an der Spitze lag, fragte seine Strategen: "Wenn ich durchfahre, auf welchem Platz komme ich dann raus?" Ohne nachrechnen zu müssen, schlussfolgerte der Gegenpart am Kommandostand: "Auf dem ersten ..."

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