Verstappen und Hamilton:Die Natur eines Crashs

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Enge Kiste: Lewis Hamilton und Max Verstappen kamen sich auf der Strecke in Silverstone zu nahe. (Foto: imago images/Every Second Media)

Laut Regelwerk lagen die Formel-1-Kommissare mit ihrer nur leichten Bestrafung von Lewis Hamilton in Silverstone richtig. Doch die Folgen reichen weiter - im Titelkampf mit Max Verstappen wird nun Kampflinie gefahren.

Von Philipp Schneider, Silverstone/München

Der Boxenfunk in der Formel 1 ist seit vielen Jahren einer der herrlichsten Unterhaltungs-Programmpunkte, es soll Liebhaber geben, die ihn noch mehr mögen als das Rennfahren an sich. Der Charme des Boxenfunks besteht darin, dass der Zuschauer etwas mithören darf, von dem der Sprecher nicht sicher sein kann, ob die Information in überschaubarer Runde bleibt. Und so hört man mit, wie die Piloten nach neuen Reifen fragen, die Rennstrategie des eigenen Teams in Zweifel ziehen, andere Piloten verfluchen oder beleidigen - oder manchmal einfach nur Liedchen singen.

Seit dieser Saison ist erstmals auch der Funkverkehr zwischen den Teams und dem Rennleiter Michael Masi freigeschaltet, und es lässt sich wahrlich nicht behaupten, dass dieser kein zusätzliches Entertainment bieten würde. So erfuhren die Zuschauer, wie sich Red Bull beim Grand-Prix in Baku für einen Rennabbruch stark machte, und wie sich in Spielberg McLaren über den Boxengassen-Dreher von Valtteri Bottas beschwerte. An diesem Sonntag in Silverstone, nachdem die beiden Titelkandidaten Max Verstappen und Lewis Hamilton in der ersten Runde in der Copse-Kurve aneinandergeraten waren, wonach es für Verstappen zu medizinischen Untersuchungen ins Krankenhaus ging und für Hamilton weiter zum Rennsieg, da lernte die Öffentlichkeit, wozu der Boxenfunk noch ganz gut zu gebrauchen ist: um hinter den Kulissen Politik zu machen. Und um im richtigen Moment die wichtigsten Dokumente für Anklage oder Verteidigung auf den Tisch zu legen.

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Während sich Helmut Marko, der Motorsportberater von Red Bull, unmittelbar auf den Weg zum nächsten Sky-Mikrofon begab, um im Fernsehen eine Strafe zu fordern, so gewaltig, dass sie erst noch erfunden werden musste ("So ein gefährliches, rücksichtsloses Verhalten gehört mit einer Suspension oder etwas Ähnlichem bestraft"), schickte der Mercedes-Teamchef Toto Wolff eine Mail an Rennleiter Michael Masi. Und als er keine Antwort im Postfach entdeckte, fragte er nach.

Die Rennkommissare sprachen Hamilton nicht frei, sie brummten ihm eine Zehn-Sekunden-Strafe auf

"Michael, hier ist Toto", funkte Wolff: "Ich habe dir gerade eine E-Mail mit Diagrammen geschickt, wo sich das Auto befinden sollte. Hast du die bekommen?" Masi funkte zurück: "Toto, ich schaue ganz bewusst während des Rennens nicht in meine Mails. Weil ich mich auf das Rennen konzentriere." Als Wolff ihm daraufhin vorschlug, er würde mit dem Diagramm persönlich vorbeikommen, da wiegelte Masi ab. Wolff solle mit dem Papier doch besser gleich zu den Rennkommissaren gehen, die in der Angelegenheit ein Urteil zu fällen hätten.

Das Dokument, von dessen Existenz die Öffentlichkeit ohne den offenen Funkverkehr niemals erfahren hätte, sind die "Überholrichtlinien für die Kommissare". Sie sind zum internen Gebrauch für das Gremium und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt - die SZ konnte sie einsehen. Tatsächlich zeigen sie ein Diagramm, das im konkreten Anwendungsfall die Frage aufwirft, warum Lewis Hamilton nach dem Crash überhaupt mit einer Zehn-Sekunden-Strafe ausgebremst wurde.

Zu sehen ist ein klassischer Entscheidungsbaum - mit jeweils grünen Autos, die überholen wollen, und roten Autos, die überholt werden. Nach der ersten Abzweigung (wo wird überholt, Innen- oder Außenseite?) folgt eine zweite: Gibt es einen "significant overlap", also eine signifikante Überlappung des zu überholenden Autos? Da dies ja eine recht schwammige Formulierung ist, ist der Entscheidungsbaum so freundlich, mit einer Illustration weiterzuhelfen. Zu sehen ist, wie sich der grüne Frontflügel exakt auf Höhe der Wagenmitte des roten Autos befindet.

Als Hamiltons Mercedes auf der Innenseite in die Copse-Kurve bog, war der "overlap" größer als auf der Skizze, er befand sich fast auf gleicher Höhe mit Verstappens Red Bull. Für diese Konstellation sehen die Überholrichtlinien folgende Bewertung für den überholenden Fahrer vor: "Die Kurve gehört dir. Wenn du es sauber durch die Kurve schaffst ("provided you make the corner cleanly")."

Nun liegt es in der Natur eines Crashs, dass es sich im Nachhinein nicht sagen lässt, ob es der Überholende sauber durch die Kurve geschafft hätte, wäre es nicht zu einer Berührung gekommen. Die Rennkommissare jedenfalls sprachen Hamilton nicht frei, sie brummten ihm eine Zehn-Sekunden-Strafe auf. Und zwar, so heißt es in ihrem Urteil: "Weil sich Fahrzeug 44 (Hamilton) auf einer Linie befand, welche nicht zum Scheitelpunkt der Kurve führte, also rechts innen Raum offen ließ." Mit anderen Worten: Sie waren sich nicht sicher, ob es Hamilton mit der exakten Positionierung seines Silberpfeils sauber durch die Copse geschafft hätte.

Weiter heißt es: "Als Wagen 33 (Verstappen) in die Kurve einlenkte, hat Fahrzeug 44 Kontakt nicht vermieden, und es kam zu einer Berührung des linken Vorderrads von 44 und des rechten Hinterrads von 33. Wir schätzen Wagen 44 daher als übermäßig schuldig ein, diese Kollision verursacht zu haben."

Die Regeln sind das eine. Ob ein Pilot sie ausreizt, das ist das andere

Rumms! Trefflich argumentiert. Die Kurve gehörte zwar Hamilton, aber sein Manöver war nicht ganz sauber. In einer perfekten Welt wäre dies das theoretische Ende einer Debatte gewesen. Zumal Hamilton, das war die Pointe dieses Rennens in Silverstone, zwei Runden vor Schluss in derselben Copse-Kurve am Ferrari von Charles Leclerc vorbeischoss - und sich diesmal etwas anders verhielt. Da nämlich fuhr er weiter rechts, ließ also innen nicht jenen Raum offen, den die Kommissare beim Überholmanöver bei Verstappen beanstandet hatten.

Die Regeln sind das eine. Ob ein Pilot sie ausreizt, das ist das andere. Insofern ließen Hamiltons Äußerungen auf der anschließenden Pressekonferenz tief blicken. Er sandte eine Botschaft in die Klinik, in der sich Verstappen befand. Zu einem Zeitpunkt, als nicht nur Hamilton bereits wusste, dass der Niederländer den Crash glücklicherweise weitestgehend glimpflich überstanden hatte. "Es gibt Dinge, die wir beide lernen können", sagte Hamilton: "Als ich jünger war, war ich wahrscheinlich genauso aggressiv ... nun, vielleicht nicht ganz so aggressiv wie Max, aber ziemlich aggressiv als Jugendlicher. Aber ich bin jetzt viel älter und weiß, dass die WM ein Marathon ist, kein Sprint, und ich habe einen besseren Plan, wie ich mein Rennen angehen kann."

Hamilton legte eine kurze Pause ein. Dann sagte er: Verstappen sei in der Vergangenheit oft "sehr aggressiv" gewesen. "Und die meiste Zeit musste ich nachgeben, um einen Unfall zu vermeiden und später im Rennen weiterkämpfen." Tatsächlich war es bei den Rennen in Imola, Portimao und Barcelona in dieser Saison jeweils fast zu Kollisionen zwischen den Rivalen gekommen, doch jedes Mal wich Hamilton zurück.

Diesmal tat er es erstmals nicht. Und wird es auch nicht wieder tun.

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