Sieben Kurven der Formel 1:Das zarte Vertrauen der Rivalen ist zerstört

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Hamilton fährt trotz des Crashs mit Verstappen grandios. Der Niederländer giftelt und Schumacher versucht, seinen Ärger zu verbergen. Die Höhepunkte aus Silverstone.

Von Elmar Brümmer

Lewis Hamilton

(Foto: Lars Baron/AP)

Sieg Nummer 99 ist der vielleicht umstrittenste in der Karriere von Lewis Hamilton, vielleicht auch einer der wichtigsten. Er kann die Wende bringen in diesem Titelduell. Die Geschehnisse von Kurve neun sind schon jetzt die am heftigsten diskutierten des Rennjahres. Aus dem Windschatten heraus sticht Hamilton in der allerersten Runde seines Heimrennens nach innen in den Rechtsbogen der Copse Corner. Die Schnauze des Mercedes ist schon auf Cockpithöhe des Autos von Max Verstappen, Hamilton beansprucht damit die Kurve für sich, Verstappen lenkt ein - es kommt zum dramatischen High-Speed-Crash.

Am Mercedes wird nur die Felge verbogen, Hamilton kann beim Neustart nach dem Abbruch weiterfahren, und er fährt ein grandioses Rennen. Den Debatten über die Schuldfrage setzt die Rennleitung mit einer Zehn-Sekunden-Strafe zumindest ein juristisches Ende - Hamilton habe zu wenig getan, den Crash zu vermeiden. Die Buße wird beim Boxenstopp getan, danach stürmt der Sünder nach vorn, zu seinem achten Sieg in Silverstone.

"Wir geben nie auf", funkt Teamchef Toto Wolff in Hamiltons Cockpit. Zurück kommt ein noch entschlosseneres: "Damit hast Du verdammt Recht, Mann." Über den Unfall sagt er später nur, dass er sich für nichts zu entschuldigen habe: "Ich brauchte die Punkte, da war eine Lücke, die habe ich genutzt. Auch Max fährt immer sehr aggressiv. Mit der Bestrafung bin nicht einverstanden - aber ich akzeptierte sie. Liebend gern hätte ich über die ganze Distanz Rad an Rad gekämpft."

Max Verstappen

(Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Wie er da so steht im Kies, gestützt von den Rennärzten, hinter sich das Wrack des Red-Bull-Rennwagens in den Reifenstapeln, hat Max Verstappen nicht bloß wacklige Knie. Dem Niederländer steht nach dem Crash mit Tempo 290 und dem Aufprall mit dem 51fachen des eigenen Körpergewichts deutlich der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Er hebt etwas schwach den Daumen, doch der Automobilweltverband FIA ordnet trotzdem Tests im Krankenhaus von Coventry an, um mögliche Kopfverletzungen auszuschließen. Von dort aus textet der 23-Jährige seiner Fangemeinde am Abend seine bittere Einschätzung der Lage: "Ich bin okay. Aber das war schon heftig. Die Strafe (für Hamilton) hilft uns in keinster Weise und wird dem gefährlichen Manöver von Lewis auch nicht gerecht."

Das zarte Vertrauen, dass sich zwischen den beiden Titelrivalen entwickelt hatte, ist nachhaltig gestört. Denn Verstappen schickte noch einen Satz hinterher, nachdem er sich die Siegerehrung aus dem Hospitalbett angucken musste: "So zu feiern ist respektlos und unsportlich." Allerdings hatte sich Hamilton sofort nach dem Unfall über das Befinden Verstappens erkundigt und war später wie alle an der Strecke davon ausgegangen, dass dem Gegner nichts weiter passiert war. Der wurde um 22 Uhr Ortszeit aus dem Krankenhaus entlassen. Aber das Klima in diesem WM-Kampf ist vergiftet.

Christian Horner

(Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Wer Bernie Ecclestone als Trauzeuge dienen kann, der muss schon etwas bewiesen haben in der F1. Christian Horner, 47, hat den Red-Bull-Rennstall zu dem gemacht, was er heute ist. Und das nicht nur mit reiner Nettigkeit. Horner hat ein gutes Gespür dafür, wie er Rennfahrer und ein ganzes Team nach vorn bringt. Nach vier Vettel-Titeln in Folge zu Beginn des letzten Jahrzehnts befehligt er jetzt eine Mannschaft, die für die Wachablösung an der Spitze sorgen kann. Max Verstappen mit seiner Kompromisslosigkeit erscheint als der ideale Ziehsohn. Schon seit Saisonbeginn ist die Fehde zwischen Horner und Mercedes-Konterpart Toto Wolff härter als die ihrer Rennfahrer gewesen, wenngleich kleine Gemeinheiten und größere Anschuldigungen meist lächelnd vorgetragen werden.

Damit ist seit dem Crash Schluss. Erst bezeichnet Konzernberater Helmut Marko das Vorgehen Hamiltons als "rücksichtlos, gefährlich und fahrlässig", fordert die "Höchststrafe". Nach dem Rennen setzt Horner noch ein oder zwei drauf. Hamilton habe aus der Verzweiflung heraus eine schlimme Fehleinschätzung begangen, das sei "amateurhaft" für einen siebenfachen Weltmeister. Horner unterstellt Hamilton auch, dass er mit dem von ihm verursachten Crash alles erreicht habe, was er vorgehabt hatte - bis hin zum Totalschaden des Red-Bull-Honda: "Den Sieg durch solch einen Unfall zu erreichen, das kann man nicht genießen."

Charles Leclerc

(Foto: Lars Baron/Getty Images)

Nach der ersten Runde in Führung zu liegen, das ist ein Traum, den jeder in der zweiten Startreihe hat. Für Charles Leclerc, als Vierter ins Rennen gegangen, ist er wahr geworden. Natürlich durch den Crash von Hamilton und Verstappen, aber auch dank des eigenen Blitzstarts. Bis zwei Runden vor Schluss darf der Monegasse sogar vom ersten Ferrari-Sieg seit dem Herbst 2019 träumen, doch dann füllt Hamilton den Rückspiegel fast komplett aus, setzt sich - wieder in der ominösen Copse-Kurve - innen neben den das rote Auto.

Die Bilder von den Geschehnissen in der ersten Runde noch im Hinterkopf, lässt Leclerc dem Gegner lieber gleich Platz, schlittert noch ein wenig ins Kurvenäußere und bilanziert seine beste Platzierung seit dem Eröffnungsrennen der letzten Saison schließlich so: "Ich bin zu 50 Prozent frustriert, aber auch zu 50 Prozent glücklich." Was seine eigene Leistung angeht, darf er mit Fug und Recht behaupten: "Ich habe 200 Prozent gegeben. Aber das hat gegen Mercedes nicht gereicht." Immerhin: der Aufwärtstrend von Ferrari setzt sich fort.

Sebastian Vettel

(Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Die Denke in Grün klappt ganz gut beim vierfachen Weltmeister. Vor dem letzten Rennen in Österreich hat Sebastian Vettel in Graz mit Kindern ein Bienenhotel gebaut, vor dem Rennen in Silverstone eine Schule im nahen Towcester besucht, um über Nachhaltigkeit zu sprechen und einen Baum zu pflanzen. Mit dem british racing green auf der Piste läuft es dagegen gerade nicht ganz so optimal. Ziemlich gut abzulesen an der Kürze und Qualität der Antworten, die er dem F1-Sender Sky gibt. Am Anfang steht noch der aussichtsreiche achte Startplatz bei seinem Heimspiel - die Rennfabrik von Aston Martin liegt genau gegenüber der Einfahrt zum Silverstone Circuit.

Doch ein Dreher nach einem Rad-an-Rad-Duell mit seinem Dauer-Rivalen Fernando Alonso wirft Vettel an das Ende des Feldes: "Ich bin nicht ganz sicher, was passiert ist, aber ich habe die Situation wohl falsch eingeschätzt und dann den Grip verloren." Zwölf Runden vor Schluss, Vettel hat auf Platz 17 nur noch die Haas-Autos hinter sich, holt ihn das Team an die Box - aus technischen Gründen, der Motor beginnt zu überhitzen. Eine Aufgabe wegen Perspektivlosigkeit würde auch keiner übel nehmen.

Mick Schumacher

(Foto: Bradley Collyer/dpa)

Und plötzlich ist das Display schwarz, nur ein rotes Lichtlein leuchtet noch am Lenkrad. Justament in dem Moment, in dem etwas geschieht, das eher selten passiert im Haas-Rennstall: Nikita Masepin, der zweite Mann im Team, kann am deutschen Rennfahrer vorbeiziehen. Okay, es ist nur ein Überholmanöver, dass den Unterschied zwischen dem letzten oder vorletzten Platz im Rennen ausmacht. Aber Schumacher junior ärgert sich natürlich darüber, wenngleich er sich an den Blackout im Cockpit gar nicht erinnern kann.

Vielmehr habe er mit seinen frischen Reifen zu kämpfen gehabt: "Wir sollten sie in den ersten Runden nicht überhitzen, aber genau da hat Nikita Attacke gemacht. Offenbar ist er mit den Reifen besser klargekommen." Pech für ihn, aber höflich versucht der 22-Jährige seinen Ärger zu verbergen: "Zufrieden bin ich nicht, das wäre gelogen." Ärgerlicher als den seinen 18. Rang findet er, dass Haas den Anschluss nach vorn zu verlieren droht.

Lando Norris

(Foto: Jon Super/AP)

Was die Armbanduhr des nächstbesten britischen Piloten nach Hamilton wert ist, respektive war, weiß die Öffentlichkeit aus dem Polizeibericht: 40.000 Pfund. Geraubt nach dem verlorenen Euro-Finale, auf dem Parkplatz des Wembley-Stadions. Das habe ihn schon mitgenommen, gestand er vor dem Rennwochenende in Silverstone, aber die beste Ablenkung sei es für ihn, sich zu konzentrieren. Das hat er, mit Blick auf die Stoppuhr, auch ganz gut hinbekommen.

Lange sieht es im Rennen so aus, als könne er es mit dem McLaren tatsächlich auf den dritten Platz schaffen. Doch dann verkantet sich eine Radmutter beim Boxenstopp, am Ende bleibt Norris der vierte Rang. Der reicht allerdings, um auf den dritten Rang der Weltmeisterschaft befördert zu werden. Das versöhnt, und der erst 21-Jährige gibt gern den Teamplayer: "Es ist natürlich ein bisschen frustrierend, aber auch ohne den verpatzten Halt hätte es vermutlich nicht aufs Podium gereicht. Die Jungs in der Box fühlen sich schlecht - und ich mich auch."

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