Englands Tabellenführer Arsenal:Vom Trümmerhaufen zum Titelkandidaten

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Bukayo Saka und Martin Ødegaard sind zwei der jungen Attraktionen bei den Gunners - Saka traf auch gegen Liverpool. (Foto: Peter Cziborra/Reuters)

Nachdem der FC Arsenal durch zahlreiche Krisen marschierte, steht er nun in der Premier League ganz vorne. Vor allem wegen eines bereits abgeschriebenen Trainers, dessen Transformationsprozess Wirkung zeigt.

Von Felix Haselsteiner

Der Spieler, an dem sich die aktuelle Geschichte des FC Arsenal beispielhaft erzählen lässt, hatte geahnt, dass diese Saison anders verlaufen könnte. "Ich habe es schon in der Vorbereitung gesagt: Dieses Jahr kann etwas Spezielles passieren", sagte Granit Xhaka am Sonntagabend. Etwas Spezielles, das ist erst einmal eine abstrakte Formulierung, die nicht gleich bedeuten muss, dass die Geschichte ein Märchen wird, also vielleicht gar mit einer Meisterschaft endet. Aber weit in die Zukunft zu blicken braucht man ohnehin nicht. Dass der FC Arsenal nach dem zehnten Spieltag der Premier League an der Tabellenspitze steht, ist speziell genug.

Ein rasantes 3:2 (2:1) gegen den FC Liverpool bedeutete nicht nur, dass die besiegte Mannschaft von Jürgen Klopp als Tabellenzehnter einen beispiellos schlechten Saisonstart beklagt, mit bereits 14 Punkten Rückstand auf Platz eins. Dieses 3:2 festigte auch die Momentaufnahme, dass die aktuell beste Mannschaft Englands mal wieder aus der Hauptstadt London kommt. Titelfavorit Manchester City gewann zwar abermals 4:0, diesmal gegen Southampton, und natürlich hat auch Erling Haaland wieder getroffen. Aber: Der FC Arsenal hat weiterhin einen Punkt Vorsprung.

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Von Felix Haselsteiner

Zufall ist das alles nicht, wie man in den ersten Saisonwochen vielleicht noch hatte denken können. Der Aufstieg der Nordlondoner ist vielmehr das Ergebnis eines viel beschworenen Prozesses. Dieser Ausdruck wurde bei Arsenal zum geflügelten Wort: "Trust the Process". Es ist ein Prozess, der zeigt, wozu Vertrauen und Geduld führen können. Im vergangenen Jahr nämlich wäre der Prozess fast schon gescheitert.

Vor einem Jahr war Arsenal punktlos Letzter, Artetas Kredit war verspielt

Ende August 2021 war Arsenal nach einem 0:5 gegen Man City punktloser Liga-Letzter. Mikel Arteta, damals wie heute der jüngste Trainer der Premier League, wurde von Medien und Fans als Hauptbeschuldigter angeklagt: Das Experiment mit dem Talent auf der Bank sei gescheitert, hieß es, Arsenal brauche dringend wieder einen Coach vom Format eines Arsène Wenger. Selbst als Ex-Arsenal-Spieler bekam Arteta keinen Kredit. Der bekannte und streitbare Fernsehmoderator und Gunners-Fan Piers Morgan brachte die Krise wie folgt auf den Punkt: "This is f****** shambles" - ein verdammter Trümmerhaufen sei diese Mannschaft..

Ein Urteil, dem man sich im Verlauf der Hinrunde 2021/22 leicht anschließen konnte: Spielerisch reichte es zwar gegen Mittelklasse-Teams, aber nicht gegen Englands Elite. Und dass Kapitän Pierre-Emerick Aubameyang im Winter nach internem Streit abgesetzt und verkauft wurde, schien ein weiteres schmutziges Kapitel beim Niedergang des Traditionsklubs zu sein.

Arteta hat die defensive Balance verändert. Das gibt der Offensive Raum für Kreativität

Vor Aubameyang war im Herbst 2019 schon Granit Xhaka als Kapitän rausgeflogen, weil er nach einem Spiel die Anhänger wüst beschimpft hatte. Der damalige Trainer Unai Emery suspendierte ihn. Arteta begnadigte den Schweizer nach seiner Ankunft zwar, doch Xhaka musste seinen Verbleib damit bezahlen, eineinhalb Jahre lang als Sündenbock herzuhalten - auch im Frühjahr 2020, als der Verein und seine US-Eigentümerfamilie Kroenke massiv angefeindet wurden, weil Arsenal zu jenen abtrünnigen Klubs gehörte, die die Premier League gegen eine Super League eintauschen wollten.

In diesem Kontext ist bemerkenswert, wie aufbrausend der Jubel derzeit erstmals seit Jahren durch das Emirates Stadium hallt. Nicht nur, weil die Europa-Superliga vorerst Geschichte ist, sondern vor allem, weil skeptisch betrachtete Spieler wie Xhaka besser spielen als je zuvor. Aus dem Trümmerhaufen ist ein Titelkandidat geworden.

Arteta kam als vormaliger Co-Trainer von Pep Guardiola mit der Vision eines mutigen Ballbesitzfußballs zu Arsenal, die erst mal daran krachend scheiterte, dass die Mannschaft aus einer Ansammlung komplizierter Individualisten bestand, die sich nicht in ein Konzept drängen ließen. Es ist daher kein Zufall, dass zwei Schlüssel für den momentanen Erfolg die Zugänge Oleksandr Sintschenko und Gabriel Jesus von Manchester City sind. Jesus schießt mehr Tore als bei City unter Guardiola, er sprach zuletzt davon, dass er sich bei Arsenal endlich wieder "frei" fühle. Und Sintschenko interpretiert die Rolle des Außenverteidigers neu und verlagert das Spiel mehr in die Mitte - womit Granit Xhaka ins Rampenlicht gerät.

Eben noch Sündenbock, nun gefeierter Spielmacher: Der Schweizer Granit Xhaka ist nicht mehr nur defensiver Abräumer, sondern lenkt mehr und mehr die Offensive des FC Arsenal. (Foto: Shaun Botterill/Getty Images)

Der Schweizer nämlich ist nicht mehr nur als Ballverteiler und defensiver Sechser zu sehen wie früher, er stößt mehr und mehr in Arsenals Offensive vor. Nur Citys Kevin De Bruyne hat in der Liga mehr Torabschlüsse vorbereitet als Xhaka, der auch gegen Liverpool immer wieder im gegnerischen Strafraum auftauchte. Diese Überlagerungen schaffen Freiräume für die Offensivfraktion: Martin Ödegaard, Gabriel Martinelli und insbesondere Bukayo Saka sind für die Bilanz von acht Heimsiegen in Serie mit 24 Toren verantwortlich. Gegen Liverpool war es vor allem die Kreativität dieser drei, die den Unterschied machte. Arsenal wirkt zielstrebig und mit Jesus als Torschütze vorne höchst gefährlich.

Gegen Liverpool traf zweimal Saka, auch er darf sich einreihen in die Liste derer, die sich zurückgespielt haben in die Herzen: Sein verschossener Elfmeter im EM-Finale 2021 und anschließende rassistische Ausfälle begleiteten den 21-Jährigen durch die gesamte Vorsaison, in der jetzigen ist er einer der besten Spieler der Liga.

Auch Jürgen Klopp brauchte mit dem FC Liverpool zwei Jahre, ehe sich der Erfolg einstellte

Spielerisch haben die jüngsten Siege gegen Tottenham und nun gegen Liverpool gezeigt, dass Arsenal nicht mehr nur gegen die Mittelklasse der Liga gewinnen kann, sondern unter Arteta zu einem echten Spitzenteam geworden ist. Es ist eine Entwicklung, die fußballerisch an Klopp und dessen Mannschaft erinnert: Auch der deutsche Trainer brauchte in Liverpool zwei Jahre, um seine Ideen zu entwickeln - erst dann kam der Erfolg.

Vor allem aber hat der FC Arsenal Frieden mit seinem Umfeld gemacht, individuell und als Mannschaft. Die chaotischen Jahre nach dem Weggang des Ewig-Trainers Wenger sind vorüber. Arteta bekommt das Vertrauen nicht mehr nur von den Klubeigentümern, sondern inzwischen selbst von Kritikern wie Moderator Morgan, der sich nach dem Spiel gegen Liverpool per Twitter entschuldigte und schrieb, auch er vertraue nun dem "Prozess".

"Man sieht die Verbindung zwischen Klub, Mannschaft und Fans", sagte Xhaka im Interview nach 3:2. "Was passiert ist, ist eben passiert", damals, in der Trümmerhaufen-Zeit. Ob am Ende dieser Saison dann wirklich etwas Spezielles passieren wird, ob vielleicht ein weiterer Pokal in Arsenals Arsenal wandert, bleibe abzuwarten, so Xhaka: "Ich genieße es im Moment einfach."

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