Im Leben gibt es Situationen, die nur auf kosmische Begebenheiten zurückgeführt werden können, die sich der Ratio zu entziehen scheinen. Im Stadion An der Alten Försterei tragen sie sich immer dann zu, wenn der 1. FC Union eine neue Höhe erklimmt. Denn dann hat immer wieder ein Argentinier eine so wegweisende wie unwahrscheinliche Nebenrolle, und keiner weiß so recht, warum.
Keine Weggabelung der jüngeren Vergangenheit dürfte wichtiger sein als die Relegation 2019 gegen den VfB Stuttgart. Hätte Nico González, heute für die Fiorentina in Italien tätig und im argentinischen Escobar geboren, sich seinerzeit nicht aufreizend ins Abseits gestellt, als Denis Aogo einen direkten Freistoß trat, so wäre Stuttgart in Liga eins geblieben und Union nicht in die Bundesliga aufgestiegen, in der die Köpenicker gerade punktgleich mit dem FC Bayern München an Tabellenrang drei stehen. "Surreal", nannte das vor ein paar Tagen Union-Trainer Urs Fischer, weil Unions Weg jeder Realität enthoben zu sein scheint.
Europa League:United bricht aus wie ein Vulkan
Manchester erreicht gegen den FC Barcelona das Achtelfinale dank jener Tugenden, die an die erfolgreiche Ferguson-Ära erinnern. Das Team profitiert von Entscheidungen des Trainers Erik ten Hag - und dem Abgang von Cristiano Ronaldo.
Seit Donnerstagabend steht fest: Der 1. FC Union darf eine weitere, ihm bislang unbekannte geomorphologische Landform des Fußballs erkunden. Die Köpenicker qualifizierten sich für das Achtelfinale der Europa League, durch einen 3:1-Sieg gegen Ajax Amsterdam, dessen Erfolge beileibe nicht bloß Vintage-Artefakte sind. Und nun ja: Die Rolle des wichtigsten Komparsen gab wieder ein Argentinier. Diesmal: Gerónimo Rulli, neulich noch Torwart beim Bayern-Schreck FC Villarreal und im Dezember, nach seinem Wechsel nach Amsterdam, Teil des von Lionel Messi angeführten Weltmeister-Kaders.
Rulli hatte beim Elfmeter zum 1:0 der Berliner (Robin Knoche/20. Minute) die Hand am Ball, doch dieser flog vom Innenpfosten ins Tor. Pech, könnte man sagen. In der 44. Minute kam ungeheuerliches Unvermögen dazu. Unions Rechtsverteidiger Josip Juranovic (44.) zog aus 25 Metern mit seinem schwächeren linken Fuß ab. Doch Rulli griff dermaßen daneben, dass auch dieser Ball im Netz landete. Ein Blooper, wie man neudeutsch sagt. Danach fand Ajax nicht mehr zurück in die Spur.
Ajax hat rund 76 Prozent Ballbesitz - und zieht doch keinen Nutzen daraus
"Wir waren besser", klagte der blendende Ajax-Kapitän Dusan Tadic. Doch die Bestätigung dieser seit der Auslosung bestehenden Prämisse der unbestreitbaren Überlegenheit der Niederländer nutzte so viel wie der Ballbesitz von rund 76 Prozent. Zwar erzielte Mohammed Kudus unmittelbar nach Wiederanpfiff den Anschlusstreffer zum 1:2. Aber nur drei Minuten später wuchtete Union-Verteidiger Danilho Doekhi, einst als zu grobschlächtig für den Ajax-Stil befunden, den Ball zum 3:1 ins Netz (50.). Ein paar Abwehrschlachten und Rudelbildungen später war Union - wie der SC Freiburg und Bayer Leverkusen - in der nächsten Runde, und Fischer wirkte tatsächlich verstört: "Tja. Was hab' ich mal gesagt? Der Wahnsinn geht weiter...", sagte der seit 2018 amtierende Schweizer Coach.
So viel Fatalismus überraschte. Denn bei Union wissen sie sehr genau, warum sie gewinnen, wenn sie gewinnen, und warum sie verlieren, wenn sie verlieren. Und das wiederum lässt sie nicht verzweifeln, wenn es dies- und jenseits der Köpenicker Bezirksgrenzen jemanden gibt, der die Nase rümpft; frei nach Goethe tun die Unioner freudig und freuen sich des Getanen, sind mithin glücklich. Fischer zumindest. "Wie die Mannschaft eine Bereitschaft zeigt, wie sie Wille zeigt, wie sie trotzdem versucht mutig zu bleiben, auch wenn sie, wie heute, in der ersten Hälfte leiden muss - das beschreibt sehr gut, wo die Mannschaft steht. Sie ist unermüdlich", sagte Fischer. Und dennoch, es sei auch so: "Im Moment läuft sehr viel für uns. Heute hatten wir einfach enorm viel Glück. Das muss man dann auch zugeben. Es gilt nicht allzu viel zu studieren, sondern dranzubleiben."
Denn die Reise geht ja weiter, auch in der Europa League. Am Freitag wurde Union der Namensvetter aus Saint-Gilles zugelost, Leverkusen darf zur Entspannung nach dem Elfmeterdrama vom Donnerstag bei AS Monaco (5:3 n. E.) an den diesjährigen Finalspielort zu Ferencvaros Budapest. Freiburg muss zum Date mit der Alten Dame Juventus Turin.
Union kennt den aktuellen Tabellenzweiten der belgischen Liga bereits aus der Gruppenphase, und jene Begegnungen sind Anreiz und vor allem Warnung zugleich. Denn erstens ist Royale Union Saint-Gilloise, wie der Klub mit vollem Namen heißt, die einzige Gastmannschaft, die in den vergangenen zwölf Monaten einen Sieg in der Alten Försterei heimfahren konnte. Und zweitens haben die Belgier keinen Argentinier in ihren Reihen, der eine Hand reichen könnte. Aber das Duell mit den Belgiern, es ist noch lange nicht in den Köpfen der Unioner. "Und jetzt die Bayern...", sagte Union-Präsident Dirk Zingler, mit einer Beiläufigkeit, die so betont wirkte, dass man meinen konnte, er könne selbst nicht glauben, was da gerade in Köpenick vor sich geht.