Spanien bei der EM:Wie Jens Lehmann 2006

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Weiß, wo er hin muss: Spaniens Unai Simón fliegt und hält gegen den Schweizer Fabian Schär. (Foto: Kiko Huesca/Agencia EFE/imago)

Torwart Unai Simón hilft Spanien im Viertelfinale gegen die Schweiz, ein kleines Elfmetertrauma zu überwinden - indem er auf einen Spickzettel setzt.

Von Javier Cáceres, Sankt Petersburg

Der Torwächter Unai Simón, 24, haushaltet gern mit seinen Emotionen. Jedenfalls dann, wenn er auf dem Platz steht. Doch als das Elfmeterschießen gegen die Schweiz vorüber war, weil Mikel Oyarzabal nach dem Fehlschuss von Ruben Vargas traf, gab es für ihn kein Halten mehr. Spaniens Nationaltorwart rannte zur Eckfahne, die rechts von der Ehrentribüne war, und jubelte wie noch nie in diesem EM-Turnier, in dem er nun mit Spanien das Halbfinale erreicht hat. Zeitgleich löste sich an der Mittellinie die Traube der Kameraden auf, sie stürzten hinter Simón her und begruben ihn am Ende unter einem Haufen menschlicher Körper. Die Schweizer hingegen, die sich so nahe am größten Erfolg ihrer Fußballgeschichte gefühlt hatten, sackten in sich zusammen. Thiago Alcántara, der sehr spät eingewechselt worden war, ging zu ihnen - vor allem zu Vargas - und spendete Trost. Doch die Blicke richteten sich auf Simón, den Torwart aus der Region Álava, der seinen Trainer Luis Enrique schulterte.

All die Ausgelassenheit, sie verhinderte nicht, dass Simón ein paar klare Gedanken fasste. Ob man ihm zustimmen musste, dass Spanien "nicht verdient hatte, überhaupt den Weg ins Elfmeterschießen anzutreten", konnte man insofern diskutieren, als die Schweizer das, was sie wollten, sehr gut gemacht hatten. Unter widrigen Umständen retteten sie - ohne den gesperrten Leader Granit Xhaka - ein 1:1 bis zum Ende der Verlängerung. Sie kassierten ein Eigentor durch Denis Zakaria (8.), glichen in der zweiten Halbzeit durch Xherdan Shaqiri aus (68.) und spielten die letzten 42 Minuten zu zehnt, weil Remo Freuler eine harte, vielleicht überharte rote Karte gesehen hatte.

Trägt die Mannschaft und den Trainer: Unai Simón. (Foto: Kiko Huesca/Agencia EFE/imago)

Dann kamen 30 Minuten, in denen Yann Sommer heiße Hände bekam. "Ich hätte diesen Preis Yann Sommer gegeben, er hat ein Riesenspiel gemacht", sagte Unai Simón, der zum Spieler des Spiels ausgezeichnet wurde. Ein paar Meter weiter stand Sommer vor einer Werbewand und kämpfte mit den Tränen. Ein Fernsehmann hatte tiefer herumgewühlt. "Was löst denn nun genau die ganzen Emotionen aus?", wollte der Reporter wissen. "Ich glaube, alles", antwortete Sommer, "man lebt in so einem Turnier mit extrem vielen Emotionen. Ich bin sehr stolz", sagte er noch. Dann brach er das Interview ab.

Die Spanier bereiten sich gegen den Willen des Trainers aufs Elfmeterschießen vor

Sommer hatte tatsächlich ein grandioses Spiel gemacht. Zehn Paraden wurden für den Gladbacher Keeper gezählt, einige davon konnte man fürwahr und ausschließlich mit dem abgedroschenen Wort Weltklasse etikettieren. Aber: Es reichte dann halt nicht, wegen des Elfmeterschießens. Bei den Spaniern verschossen zwar Sergio Busquets und Rodri, der in der 119. Minute nur fürs Elfmeterschießen eingewechselt worden war. Bei den Schweizern waren es gleich drei, die nicht trafen: Fabian Schär, der monumental aufspielende Dortmunder Innenverteidiger Manuel Akanji und eben der untröstliche Augsburger Vargas, der den Ball Richtung Baltikum schickte. "Er war physisch kaputt, er hatte aber die mentale Kraft, zu einem Elfmeter anzutreten", sagte Trainer Vladimir Petkovic.

"Elfmeter sind immer ein bisschen Glück und Lotterie", sollte Unai Simón sagen. Doch sein Trainer Luis Enrique protestierte ungefragt. "Die Elfmeter sind keine Lotterie. Es geht darum, mit der Anspannung zurechtzukommen, um die Fertigkeit der Torhüter", argumentierte er. Und auch wenn er als alter Johan-Cruyff-Schüler und -Anhänger der festen Überzeugung ist, dass man Elfmeterschießen nicht trainieren kann, weil die Drucksituation am Punkt nicht simuliert werden kann und ein Profi doch wohl gefälligst einen ruhenden Ball aus elf Metern ins Tor schießen kann, so hat es offenkundig nicht geschadet, dass die Spanier sich gegen den Willen des Coaches aufs Elfmeterschießen vorbereiteten.

Zu Beginn der EM hatte das Team darum gebeten, Elfmeter zu üben. Luis Enrique lehnte aus oben genannten Gründen ab - und verwies auf das Beispiel aus dem verrückten Europa-League-Finale, als das Elfmeterschießen 11:10 für den FC Villarreal ausging, der vorher keine Elfmeter geübt hatte. Aber er beharrte nicht auf seiner Position. Vielleicht auch, weil sein Team so etwas wie ein kleines Elfmetertrauma zu verarbeiten hatte.

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Unai Simón ist gern vorbereitet

Als das Elfmeterschießen im Stadion von Sankt Petersburg startete, blickten die Spanier auf fünf verschossene Elfmeter in Serie zurück. Zuletzt war Mittelstürmer Álvaro Morata gegen die Polen gescheitert. Sommer hatte vor wenigen Monaten in einem Spiel gegen die Mannschaft von Luis Enrique gleich zwei Elfmeter von Sergio Ramos gehalten, dem großen Abwesenden der laufenden EM. Als in Sankt Petersburg das alte Lied "London Calling" von The Clash abgeklungen war, sah es aus, als würde die Serie ihre Fortsetzung finden. Ausgerechnet Sergio Busquets setzte den ersten Elfmeter an den linken Pfosten. Aber: Die Schweizer konnten den Vorteil am Ende nicht nutzen. Auch weil im Tor der Spanier ein Mann stand, der sich gern präpariert: Unai Simón, der sich die testosterongeladenen Komplimente seiner Mitspieler redlich verdiente. "Er hat sooo große Eier", rief Mittelfeldspieler Koke im TV-Interview - zu einer Zeit, da 69,1 Prozent der Spanier vor dem Bildschirm saßen.

Die Vorbereitung erinnerte an Jens Lehmann aus dem WM-Viertelfinale gegen Argentinien 2006. Damals hatte sich Lehmann auf einem Zettel die bevorzugten Seiten der Argentinier notiert, den Zettel in seinem Strumpf versteckt und immer wieder hervorgekramt. Er verunsicherte die Argentinier, sie schieden aus. Simón machte etwas Ähnliches: Er hatte ebenfalls einen Zettel dabei, aber im Handtuch versteckt.

"Ich habe mir heute die Videos angeschaut, die der Torwarttrainer zusammengestellt hatte, und habe mir dann meine Notizen gemacht", erzählte Simón. Eine Garantie sei auch das nicht. Aber es hilft. "Es geht darum, überzeugt auf eine Seite zu springen." Und dass das dann immer noch schiefgehen könne - ja mei. "Beim ersten Schützen (Gavranovic), hatte ich mir links aufgeschrieben, und dann ändert er das nach rechts", sagte Simón. Dann aber kamen erst Schär und Akanji, bei denen Simón in die richtige Ecke flog, und am Ende auch Vargas, der den Ball übers Tor setzte. Und das hieß: Nun wartet Italien in London auf die Spanier, und nicht auf bravourös kämpfende Schweizer.

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