Den Italienern bereitet es gerade viel Mühe, die Füße auf dem Boden zu behalten. Sie versuchen es ja, reden dabei die geschlagenen Gegner kleiner, als die wirklich sind - für eine eventuelle Ausnüchterung. Doch der Drang zur Ausschweifung ist so mächtig, dass er am Ende alle Vorsicht wegwischt, und wer kann es ihnen verdenken? Zweimal 3:0, gegen die Türkei und die Schweiz, ein Turnierstart wie im Traum. Italiens Nationalmannschaft ist jetzt seit 29 Spielen in Serie ungeschlagen, seit zehn Spielen hat sie kein Gegentor mehr zugelassen, da kann einem das Herz schon mal überlaufen.
"Freie Sicht auf London", hatte eine Zeitung schon vor dem Spiel gegen die Schweiz getitelt, als stünde einem das Finale im Wembley eigentlich schon zu. Man will eben auch träumen um des Träumens willen, ohne Furcht vor Fallhöhen.
Die Schweiz, im Ranking der Fifa immerhin die Nummer 13, sei "demoliert" und "annulliert" worden, schreiben die Gazzetta dello Sport und der Corriere della Sera eher unromantisch - und, nun ja, damit ist das Meiste erzählt. Natürlich aber gibt es viele Geschichten in dieser Geschichte. Da wäre einmal die Geschichte von Manuel Locatelli, 23 Jahre alt, Mittelfeldspieler aus Galbiate am Lago di Lecco, äußerster Norden Italiens, zwölf Länderspiele. Man of the match. Locatelli hat in seiner Karriere noch nie zwei Tore in einem Spiel erzielt, auch in der Meisterschaft nicht.
In Italien feiern sie vor allem Locatellis zweites Tor
Und nun flog er über diese Begegnung, ein Treffer war schöner als der andere. Außerhalb Italiens mag man vielleicht das erste Tor besonders eindrucksvoll gefunden haben, in Entstehung und Ausführung, mit dieser Spielverlagerung aus der Drehung und Locatellis eher ungewöhnlichem Sturm in die Spitze für die Vollendung, das macht er sonst nie. "Da war etwas Verrücktheit drin", sagte Locatelli nach dem Spiel. "Ist ja sonst nicht meine Art." Doch er sei halt "wie elektrisiert" gewesen.
In Italien feiern sie aber vor allem Locatellis zweites Tor, es erinnert alle und nachgerade ominös an einen fröhlichen Madrider Sommerabend im fernen Jahr 1982, WM-Finale gegen Deutschland. Damals traf Marco Tardelli aus ähnlicher Lage, mit ähnlicher Körperhaltung, nur natürlich noch viel erlösender, zum 2:0. Italien gewann damals etwas mehr als eine Weltmeisterschaft. La Stampa schreibt, die Italiener, die in einer großen Welle auch in die Schweiz emigriert waren und dort während Jahrzehnten "gettoisiert" worden seien, hätten sich mit jenem Sieg in die Herzen der Schweizer gespielt. "Wenn die Schweiz jetzt eine so multikulturelle Nationalmannschaft hat, dann ist das eben auch ein Verdienst von uns Italienern."
Avantgarde, es ist lange her.
3:0 gegen die Schweiz:Italien hat noch Großes vor
Das Achtelfinale im Eiltempo erreicht, die Superserie ausgebaut: Spätestens nach dem 3:0-Sieg gegen die Schweiz steht fest, dass Italien zu den Turnierfavoriten zählt.
Nun vergleichen sie Locatelli mit Tardelli - von wegen: Füße auf dem Boden. "Loca" ist im Nachwuchs von Atalanta Bergamo groß geworden und machte beim AC Mailand sehr jung seinen ersten Versuch im großen Fußball - mit einer Tonne vorgeschossener Lorbeeren. In Italien lassen sie die Jungen selten in Ruhe wachsen, die müssen schon jung alt sein. Für Locatelli war die Nummer zu groß. Vor drei Jahren verkaufte ihn Milan in die Provinz, zur Unione Sportiva Sassuolo - unter Preis, der Verein musste Kasse machen. An die Entfaltung des talentierten Mannes glaubte eh schon niemand mehr.
Locatelli rieb sich zuerst oft an Trainer Roberto Mancini
In Sassuolo lassen sie aber die Jungen jung sein. Locatelli wuchs neben Domenico Berardi, dem rechten Flügel im Verein und in der Nationalmannschaft: beide körperlich stark mit diesem unbedingten Zug nach vorn, mehr englisch als italienisch in der spielerischen Veranlagung. Und so schauen sich nun auch Teams aus der Premier League die beiden Herrschaften aus der Provinz ganz genau an. Locatelli rieb sich zuerst oft an Roberto Mancini, dem Trainer der Azzurri, die beiden fanden aber mit der Zeit zueinander. Gesetzt war Locatelli trotzdem nicht, sein Platz auf dem Feld gehört Marco Verratti von Paris Saint-Germain, dem wohl internationalsten Mitglied der Nazionale.
Verratti ist aber oft verletzt, auch jetzt laboriert er mühselig an seinem Comeback. Als man Locatelli nun fragte, ob er sich nicht unverzichtbar gemacht habe mit seiner Leistung, unauswechselbar gewissermaßen, sagte er: "Ich hoffe, dass Verratti bald zurück ist, er ist einer, der den Unterschied macht." Und vielleicht macht auch dieser Satz den Unterschied. Italien ist ein richtiges Team, eines ohne Stars und Egos. Im letzten Gruppenspiel gegen Wales am Sonntag in Rom wird dann wohl Verratti spielen, er trainiert seit ein paar Tagen wieder mit den Kameraden.
Jede Position ist doppelt besetzt - nicht mit identischen Spielprofilen, aber doch leicht variierbar. Mancini hat es geschafft, und das ist die ganz große Geschichte in der Geschichte, aus den Azzurri eine Squadra zu formen, als wäre sie eine Vereinsmannschaft. Mit den Reflexen eines Klubs, mit den Automatismen eines Klubs, mit dem Zusammenhalt eines Klubs, mit einer leicht erkennbaren Ideologie. Der Corriere dello Sport nennt es "Mancio Football Club" - "Mancio" ist die Abkürzung von Mancini, in Italien ist jeder Mancini ein "Mancio". Im Radio sagen sie, Mancinis Nationalmannschaft sei nicht "Tochter der Serie A", sie spiele also nicht, wie Teams aus der italienischen Meisterschaften spielten - kein einziges spiele wie diese Nazionale.
Mancini lässt modernen Fußball spielen, wie man ihn von großen Vereinen kennt
Früher war es oft so, dass sich das Spiel der Azzurri an der gerade herrschenden Dynastie orientierte, meistens kam die natürlich jeweils aus Turin oder Mailand: Juve, Inter und Milan gaben das Modell vor, lieferten taktisches Gerüst und Personal. Und der Commissario Tecnico sortierte dann ein bisschen das Beigemüse drum herum.
Pressestimmen:"Diese Nationalelf hat das Recht, groß zu träumen"
In Italien erlebt man magische Nächte, die Schweiz vermisst Sprit im Tank und Spanien lobt die "perfekte Maschine": Die Pressestimmen zu Italiens Einzug ins Achtelfinale.
Mit Mancini ist alles anders. Er hat seinen Stil, er steht stur dazu. Als Blaupause dienen ihm sein eigenes, offensives Spiel als aktiver Fußballer und als Trainer unter anderem bei Manchester City und Inter. Mancini berief in drei Jahren als Coach der Nationalmannschaft 76 Spieler, 65 kamen zum Einsatz, 36 gaben unter ihm ihr Länderspieldebüt. Da suchte einer ganz gezielt die passenden Leute für seine Ideen: hohe Verteidigung, doppelter Spielmacher, Angriff wenn immer möglich zu fünft. Mancinis Italien ist kompakt und selbstsicher, so, wie man es seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hat. Es läuft unentwegt. Geht der Ball mal verloren, und das kann bei diesem schnellen Direktspiel schon vorkommen, dann jagen zwei, drei Spieler hinterher, umschwirren den ballführenden Gegner, bis dem die Luft ausgeht, bis er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Mit Biss, mit Hunger, mit dieser Passion, der man gerne schon eine post-pandemische Note andichtet.
Man war lange weg gewesen, fünf Jahre kein solches Turnier mehr, die letzte WM hatte man verpasst, der Nachholbedarf ist groß. Natürlich, Mancini lässt einfach modernen Fußball spielen, wie man ihn von großen Vereinen kennt. Aber das ist eine Sensation: So vertikal war Italien vielleicht noch nie.
Die Italiener haben viel Freude daran. Und sie singen. Jovanotti singt im Duett mit Gianni Morandi "L'Allegria", die Heiterkeit, den inoffiziellen Soundtrack der EM - in der ersten Strophe heißt es: "Wir brauchen einen Lebensknall, eine Aktion, die das Spiel öffnet." Im Stadion hört man wieder das "Poooo-po-po-po-po-poooooo-po!", wie man es noch aus einem deutschen Sommermärchen 2006 kennt. Und Ciro Immobile, dem Mittelstürmer bei Lazio Rom, Schütze des 3:0, trägt die lokale Popularität "Cirooo-Cirooo"-Chöre ein, für die er sich dann immer sofort bedankt, als wähnte er sich schon auf der Ehrenrunde. Nicht einfach, da die Füße unten zu behalten. Dabei hat die Geschichte erst begonnen.