Diesmal keine von Andrea Bocelli gesungene Arie, kein virtuelles Rockkonzert, keine Eröffnungsspiel-Euphorie, unter der die untergehende römische Sonne am Freitagabend gleich noch einmal romantischer gewirkt hatte. Es waren andere Voraussetzungen für die Italiener beim zweiten Gruppenspiel gegen die Schweiz als noch am vergangenen Freitag, als die "notte magica" in Italien so viel Begeisterung ausgelöst hatte. "Die Moral, die Lust, ein Teil des Teams zu sein, in dem alle ihre Qualitäten in den Dienst der Mannschaft stellen", hatte Weltmeister-Trainer Marcello Lippi unter der Woche erkannt und war damit in den Chor der Lobpreisungen eingestimmt, der nach dem Auftakt (3:0) gegen die Türkei so inbrünstig gesungen hatte wie sonst nur zum Anlass der Nationalhymne vor dem Spiel.
Die Mehrheit der Fußballwelt war unter dem Eindruck des ersten Spiels eingestimmt in diesen Chor. Und es hat schon einen zweiten derart eindeutigen 3:0-Sieg wie am Mittwochabend gegen die Schweiz im zweiten Spiel gebraucht, um die These zu widerlegen, dass die große Begeisterung über die Italiener ein kurzfristiger Hype war. Immer mehr manifestiert sich nämlich die These, dass diese Mannschaft - traditionell in blau gekleidet, aber ansonsten neu erfunden - zum engen Favoritenkreis der Europameisterschaft 2021 zählt.
Nicht nur der Rahmen gestaltete sich nun etwas weniger formell in Rom, rein sportlich betrachtet mussten die Italiener ohne den rechten Stamm-Außenverteidiger Alessandro Florenzi auskommen, der sich im Eröffnungsspiel verletzt hatte. Trainer Roberto Mancini ersetzte ihn durch Giovanni Di Lorenzo von SSC Neapel. Ansonsten vertraute er der Mannschaft vom Freitag, genauso wie sein Gegenüber, der Schweizer Trainer Vladimir Petkovic, der ebenfalls dieselben elf Schweizer aufbot wie schon beim 1:1 gegen Wales.
Giorgio Chiellini trifft, doch Schiedsrichter Sergei Karasev nimmt das Tor wieder zurück
Es dauerte keine fünf Minuten, da spielten die Italiener einfach so weiter, als wäre die magische Nacht nie zu Ende gegangen. Geradezu rauschhaft war die Partie gegen die Türkei geendet, ähnlich herausragend begann das Spiel gegen die von Anfang an abwartenden und offensiv ungefährlichen Schweizer. Italien kontrollierte den Ball, strahlte zu Beginn vor allem über die linke Seite viel Gefahr aus und kam schnell zu guten Chancen: Stürmer Ciro Immobile vergab in der 10. Minute aus wenigen Metern per Kopf.
Kurz darauf gingen die Italiener durch Giorgio Chiellini in Führung, Schiedsrichter Sergei Karasev nahm das 1:0 in der 20. Minute jedoch nach Ansicht der TV-Bilder wieder zurück. Chiellini - der kurz darauf verletzt das Feld verlassen musste - hatte den Ball unabsichtlich mit der Hand berührt, was nach der Regelauslegung ein strafbares Vergehen ist, wenn es sich beim Handspieler um den Torschützen handelt. Reichlich unbeeindruckt spielten die Italiener einfach weiter und kamen wenige Minuten später zur hochverdienten und diesmal auch regelkonformen Führung: Manuel Locatelli leitete erst mit einem Volleypass zu Domenico Berardi auf der rechten Seite ein und vollendete nach einem Vollsprint durch die Schweizer Hälfte kurz darauf selber aus kurzer Distanz (26.).
Die Italiener besannen sich danach auf eine ihrer Kerntugenden und verteidigten ihren Vorsprung. Allerdings nicht im Stile der 1990er-Jahre oder derer von Marcello Lippi, sondern so, wie Italien seit 2018 unter Mancini und insbesondere bei der EM bisher aufritt: mit viel Ballkontrolle, nahezu perfekter Defensive und einer Mischung aus Selbstverständnis und -vertrauen, die in dieser Form noch keine Mannschaft bisher bei diesem Turnier gezeigt hat.
Die Schweiz wirkt entkräftet und matt - ganz anders als die Italiener
Die Schweizer fielen über weite Strecken der Partie allenfalls durch ihre Frisuren auf, die das Werk eines ins Teamquartier eingeflogenen Friseurs waren: Granit Xhaka (frisch blondierter Haaransatz), Nico Elvedi (Strähnchen) und Manuel Akanji (kurzgeschorene, blondierte Haare) waren auch beim zweiten Treffer der Italiener - mitten rein in eine fünfminütige Schweizer Aufbäumphase - zu weit weg, um einzugreifen. Locatelli konnte aus 18 Metern ungestört schießen, Towart Yann Sommer war chancenlos (52.).
Die Schweiz wirkte trotz früher Wechsel entkräftet und matt, ganz anders als die Italiener: Immobile hätte schon in der 73. und 75. Minute zum 3:0 erhöhen können, er tat es schließlich mit einem Distanzschuss in der 89. Minute. Längst war da eine kontrollierte Ruhe in das italienische Spiel eingekehrt. Anders als gegen die Türkei, als die Italiener mit wehenden Fahnen bis zur letzten Minute angelaufen waren, weil sie sich in der Euphorie gar nicht mehr halten konnten, kontrollierten sie diesmal mit Gemach und schonten ihre Kräfte. Italien spielte nicht wie eine Mannschaft, die noch irgendetwas beweisen muss, sondern wie eine, die noch Großes vorhat.